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KinoPerspektiven: Das Video-Essay als mediale Kritik

English version below

Kevin B. Lee ist Filmemacher- und Kritiker aus Chicago. Von der Süddeutschen Zeitung als Pionier des Genres bezeichnet, produzierte Lee in den letzten 10 Jahren über 360 online publizierte Video-Essays. Mit „Transformers: The Premake“ entwickelte er das Genre weit über bestehende Formate hinaus zu einem zeitgemäßen Instrument visueller und medialer Kritik. Er ist seit 2017 Professor an der Merz Akademie im Bereich Crossmedia Publishing.

Johannes Duncker: Was war deine Reaktion als klar wurde, das in den nächsten Monaten eine Lehre mit physischer Präsenz nicht möglich sein würde?

Kevin Lee: Zunächst war es nur eine von vielen Anpassungen an die neue Realität, die sich Anfang März abzeichnete. Ich besuchte gerade meine Familie in San Francisco, als mir klar wurde, dass ich den nächsten Flug zurück nach Deutschland nehmen oder auf unbestimmte Zeit in Kalifornien bleiben musste. Da ich meine Studierenden ohnehin nicht persönlich treffen würde, beschloss ich, sie aus der Ferne zu unterrichten und mich gleichzeitig um meine Mutter kümmern zu können. Dieses Semester unterrichte ich zwei neue Kurse: „Screen Stories“, in dem internetbasierte Erfahrungen mit Computern und Smartphones als Grundlage für Film- und mediale Erzählungen; und einen Critical Studies Kurs „Media Innovation and Disruption“. Ohne es geplant zu haben, wurden diese Kurse unglaublich relevant für die Krise und halfen mir, meinen Unterricht direkt auf die Situation auszurichten. Ich konnte mit verschiedenen Fernlerntechniken experimentieren, wie z.B. vorab aufgezeichnete Vorlesungen, Online-Chat-Diskussionen und Herausforderungen in virtuellen Gruppen. Diese Experimente wurden für sich genommen lehrreich, so dass die Studierenden und ich darüber nachdenken konnten, was als Lernerfahrung in der Online-Umgebung funktionierte und was nicht.

Stuttgart, 30.05.2017, Ringvorlesung der Reihe „Film Kritik versus Video Essay – Nachdenken über Film“ diesmal mit „Kevin B. Lee – 10th Anniversary of Video Essay“ (Foto: Merz Akademie, Victor S. Brigola)


Wo siehst du die Herausforderungen oder Vorteile des Fernunterrichts? Vor allem für das Unterrichten von Film oder Crossmedia-Publishing?

Als Film-/Mediendozent war es faszinierend, die Auswirkungen von Live-Videokonferenzen auf die Dynamik im Klassenzimmer zu sehen. Im physischen Klassenzimmer war es so selbstverständlich, dass der bloße Aufenthalt im selben Raum eine gemeinsame Atmosphäre und Aufmerksamkeit schafft. Diese Aufmerksamkeit wird über das Videokonferenzraster aufgeteilt und neu verteilt: ein Panoptikum aus Einzelporträts, bei dem jeder Studierende in einer eigenen Bildrahmung abgelichtet wird und dabei gleichzeitig mit den anderen konkurriert – ein fortlaufender Mehrfachbildschirm, der die Augen ermüdet. Die Angst vor vergleichender Sichtbarkeit, die sich daraus insbesondere für die Studentinnen ergibt, ist bereits bekannt. Ansonsten verstecken sich die Studierenden hinter einer anonymen Black Box (einige meiner Lehrerkolleg*innen bestehen sogar darauf, um unansehnliche Ablenkungen zu vermeiden), was für mich das Gefühl der Anonymität und Unverbundenheit verstärkt. Es wird entweder zu viel oder zu wenig gesehen. Meine Studierenden berichten in der Regel nach 1-2 Stunden Live-Video von Erschöpfung, insbesondere wenn die Kurse vorlesungsorientiert sind und sie kaum Gelegenheit zum Sprechen haben.

Aus diesem Grund habe ich meine Vorlesungen und Einführungen zu Filmvorführungen voraufgezeichnet, wie man sie in der Liste der Vorlesungen der Klasse „Screen Stories“ finden kann, die online verfügbar ist. Die Studierenden sehen sie sich nach Belieben selbst an. Online-Treffen führe ich sie in kleinen Gruppen von fünf Studierenden durch. Die Studenten sind so viel eher geneigt, ihre Kameras einzuschalten und sich an der Diskussion zu beteiligen. Es besteht ein größeres Gefühl der Intimität, was im Vergleich zum Klassenzimmer der entscheidende Vorteil sein kann, den diese Art der Kommunikation schließlich zu bieten hat, sobald das Raster auf einen menschlicheren Maßstab eingestellt ist.


Hattest du die Gelegenheit, an einer der vielen Online-Ausgaben von Festivals teilzunehmen, die derzeit stattfinden? Was ist dein Eindruck davon?

Ich habe die unterschiedlichen Methoden der Filmvorführung der verschiedenen Festivals bemerkt, von Livestream-Programmen, die mit den ursprünglichen Zeitplänen übereinstimmen, bis hin zu freigeschalteten Vimeo-Screenern, die während des gesamten Festivals auf der Website des Festivals abgerufen werden können. Dieses Spannungsfeld zwischen enger Spezifität und offener Verfügbarkeit von Filmen gilt auch für die Online-Festivals selbst. Einerseits ist es spannend, daran zu denken, dass man praktisch gleichzeitig an einem Dokumentarfilmfestival in Paris und einem experimentellen Festival in Michigan teilnehmen könnte. In Wirklichkeit erweist sich dies als anstrengend, vor allem nach so vielen Stunden, die man bereits online mit Arbeit und sozialen Interaktionen verbracht hat.


Um es in Marktbegriffen der Über- oder Unterbewertung zu sehen, glaube ich nicht, dass Festivals viel zu gewinnen haben, wenn sie Online-Seherfahrungen anbieten, die ja bereits im Überfluss vorhanden sind. Begegnungen im physischen Raum – nicht nur innerhalb des Kinos, sondern um das Kino herum – sind das, was Festivals auszeichnet, nicht nur in Bezug auf die Qualität der Filme, sondern auch in Bezug auf die Qualität der Interaktionen um die Filme herum. Während ein großer Reiz des Internets in seiner unmittelbaren Zugänglichkeit zu so vielen Dingen liegt, mag dies dem Festival, dessen Wert so sehr von Begrenztheit, Einzigartigkeit, einem ausgeprägten Gemeinschaftssinn und einem besonderen Ort abhängt, nicht dienlich sein. Wie schafft man in dem überbevölkerten Raum des Internets die Erfahrung des Besonderen, nach dem man sich die Mühe macht, zu suchen?


Deine eigenen Arbeiten konzentrieren sich sehr stark auf das bewegte Bild außerhalb des Kinos. Glaubst du, dass die aktuelle Krise die Art und Weise verändert hat, wie wir bewegte Bilder online konsumieren oder produzieren?

Wenn überhaupt, dann hat die Krise das, was im letzten Jahrzehnt bereits passiert ist, sichtbarer gemacht und verstärkt. Es ist keine Überraschung, dass Netflix, Instagram, YouTube, Facebook und Amazon, die wahren Multiplexe unserer Zeit, in den letzten Monaten nur noch größer geworden sind. Zusammengenommen haben sie eine neue Infrastruktur der Bewegtbildkultur aufgebaut, die eine größere Bevölkerung angesprochen hat, schon allein deshalb, weil sie das Sehverhalten und die Bedürfnisse der Menschen ausführlich und gewinnbringend untersucht haben. Und sie haben Benutzeroberflächen und Produkte entworfen, um diese Bedürfnisse besser auszunutzen: ein endloser Kreislauf von Konsum und Produktion ermöglicht durch die Unmittelbarkeit der Interaktion der Benutzer*innen. In einer globalen Krise hat sich diese Unmittelbarkeit noch verstärkt, auf den Bildschirmen in der Hand oder zu Hause.


Was denkst du über die Situation des Kinos in dieser Krise und danach?

Wenn es eine Chance für eine utopische Vision gibt, dann müssten wir wahrscheinlich unsere Verbundenheit mit dem Kino, so wie wir es kennen, hinter uns lassen. Vieles davon wird bereits Stoff für Museen. Andererseits sind auch Museen eine Art Utopie.

//English version

Kevin B. Lee is a filmmaker and critic from Chicago. Described by the Süddeutsche Zeitung as a pioneer of the genre, Lee has produced over 360 video essays published online in the last 10 years. With „Transformers: The Premake“ he developed the genre far beyond existing formats into a contemporary instrument of visual and media criticism. Since 2017 he has been a professor at the Merz Akademie in the field of cross-media publishing.

Johannes Duncker: How did you react when it became clear that you could not teach with a physical attendance in the upcoming months?

Kevin Lee: At first I took it as just one among many adjustments to the new reality that was unfolding in early March. I was visiting my family in San Francisco when I realized I would have to get on the first flight back to Germany or else stay in California for an indefinite time. Since I wouldn’t be meeting my students in person anyway, I decided I would teach them remotely while being able to monitor my elderly mother so that she wouldn’t catch the virus. This semester I am teaching two new courses: “Screen Stories” which uses internet-based experiences of computers and smartphones as the basis for film and media storytelling; and a critical studies course “Media Innovation and Disruption”. Without having planned for it, these courses became incredibly relevant to the crisis and helped me address my teaching directly to the situation. I could experiment with different distance learning techniques, such as pre-recorded lectures, online chat discussions and virtual group challenges. Those experiments became instructive in themselves, that the students and I could reflect on what was or was not working as learning experiences within the online environment.

Where do you see the challenges or benefits of teaching remotely? Especially for teaching film or crossmedia publishing?

As a film/media instructor, it has been fascinating to see the effects of live video conferencing on the classroom dynamic. So much was taken for granted in the physical classroom in how just being in the same room provides a shared ambience and threshold of attention. This communal attention is split and redistributed across the video conference grid: a panopticon of individual portraits, each student exposed in a frame while simultaneously competing with the others – a perpetual multiscreen that tires the eyes. The anxiety of comparative visibility that this produces, especially for female students, is already known by now. Otherwise students hide behind an anonymous black box (some of my teaching colleagues even insist on it, to avoid unsightly distractions), which for me amplifies the feeling of anonymity and disconnection. Either too much or too little is seen. My students typically report exhaustion after 1-2 hours of live video, especially if the courses are lecture-driven and they have little chance to speak.

For that reason I have pre-recorded my lectures and introductions of film screenings, such as can be found in the viewing list for the “Screen Stories” class, which is available online. Students watch them on their own as suits them. When it is time for meetings online, I conduct them in small groups of 5 students. Students are much more inclined to turn on their cameras and participate in discussion. There’s a greater sense of intimacy, which, compared to the classroom, may be the distinct advantage that this mode of communication has to offer after all, once the grid is adjusted to a more human scale. 

Stuttgart, 30.05.2018, Crossmedia Publishing, Erstsemestler SS 2018, 30 Stunden Projekt Präsentation.(Foto: Merz Akademie, Lea Röwer, Christopher Woods)

Have you had time to take part in one of the many online editions of festivals that are taking place right now? What is your impression of that?

I have noted the different methods of film presentation by different festivals, from livestream schedules matching the original timetables, to unlocked Vimeo screeners playable throughout the entire festival on its website. This tension between narrow specificity and open availability of films applies to the online festivals themselves. On the one hand it is exciting to think that one could virtually attend a documentary festival in Paris and an experimental festival in Michigan at the same time. In reality this proves exhausting, especially after so many hours already spent online engaged in work and social interactions. 

To think of it in market terms of the overvalued and undervalued, I don’t think festivals have much to gain from providing online viewing experiences that are already in surplus. Encounters within physical space – not just within the cinema but around the cinema – are what distinguishes festivals, not just for the quality of films but the quality of interactions around the films. While a big appeal of the internet is its imminent accessibility to so many things, this may not serve the festival, whose value depends so much on limitedness, specialness, a distinct sense of community and a rare destination worth seeking. In the overpopulated space of the internet, how does one create the experience of the rare, that one makes the effort to seek after?

Your work focuses a lot on the moving image outside of cinema. Do you think the current crisis has changed how we consume or produce moving images online?

If anything, the crisis has made more visible what has already been happening for the past decade and amplified it. It’s no surprise that Netflix, Instagram, YouTube, Facebook and Amazon, the true cineplexes of our age, have only gotten bigger in the past months. Collectively they have built a new infrastructure of moving image culture that has engaged a greater population, if only because they made a closer and more profitable study of people’s viewing behavior and impulses, and have designed interfaces and products to more fully exploit those impulses: an endless cycle of consumption and production through the immediacy of user selection and interaction. In a global crisis, that immediacy has intensified even further, on the screens in one’s hand or one’s home. The “Media Innovation and Disruption” and “Screen Stories” classes I teach approach this phenomenon from different sides: the former from a media criticism side, the latter from a media production side.

What do you think about the situation of cinema in this crisis and after it?

If there is a chance for a utopian vision, it would probably require leaving behind our attachment to the cinema as we have known it, much of which is becoming the stuff of museums. Then again, museums are a kind of utopia.

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