1992 erschütterten die Brandanschläge von Rostock-Lichtenhagen und Mölln das wiedervereinigte Deutschland. Drei Menschen starben, viele überlebten traumatisiert – unter ihnen der damals siebenjährige İbrahim Arslan. Martina Priessners Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ erzählt nicht nur von den tödlichen rechtsradikalen Anschlägen, sondern von einem lange verdrängten Skandal: Hunderten von Solidaritätsbriefen, die den Opfern Trost hätten spenden können, aber im Archiv verschwanden.
Von Frank Olbert.
In den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen und Mölln zerplatzte 1992 der Traum, dass sich das wiedervereinigte Deutschland in ein besseres, weltoffeneres Land verwandelt hätte. Im Sommer und im Spätherbst dieses Jahres attackierten in Mecklenburg Rechtsradikale unter dem Applaus von bis zu 3.000 Zuschauern die Zentrale für Asylbewerber sowie ein Wohnheim für Vietnamesen, während in Schlewig-Holstein Neonazis zwei Häuser in Brand setzten, die von türkischen Familien bewohnt wurden. Drei Menschen starben in Mölln: Bahide Arslan (51), die ihrem Enkel İbrahim das Leben rettete, seine Schwester Yeliz Arslan (10) und seine Cousine Ayşe Yilmaz (14). İbrahim Arslan selbst war damals sieben Jahre alt und erlitt schwere Verletzungen. Er ist der Protagonist in Martina Priessners Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“.
Die Ereignisse des Jahres 1992 handelt Priessners Film eher knapp in einigen Bildern aus der „Tagesschau“ und mit Berichten der Zeitzeugen ab. Sie konzentiert sich auf einen anderen Vorgang, nämlich auf das lange Nachspiel zur Nacht auf den 23. November, das im Grunde bis zum heutigen Tag andauert und auch die Drehbarbeiten zu den „Möllner Briefen“ überdauert. In diesen Briefen werden die Stimmen von Hunderten von Absendern laut, die das „andere“ Deutschland repräsentieren. Sie bringen ihre Anteilnahme, ihren Schmerz und ihre Solidarität mit den betroffenen türkischen Familien zum Ausdruck. Vielfach sind es Kinder, die, wenn sie keine Worte finden, Bilder beilegen. Anderen ist die Wut anzumerken, die sie angesichts der rechtsradikal motivierten Verbrechen verspüren.
Die Opfer in Mölln allerdings bekamen diese Briefe nie zu Gesicht. Die Schreiben verschwanden im Stadtarchiv. Die Stimmen wurden gewissermaßen zum Schweigen gebracht.
Martina Priessners bringt diese Affäre, die man getrost einen Skandal nennen darf, ans Licht. Im Vordergrund steht dabei konsequent die Reaktion der Betroffenen, vor allem die von Ibrahim Arslan, der erst 2016 von den Briefen erfuhr, als eine Studentin bei ihren Nachforschungen zu den Anschlägen von Mölln auf sie stieß. Aber auch die Stadt lässt die Autorin fairerweise zu Wort kommen: den rechtschaffenen Archivar, der nur tat, wie ihm geheißen, und der sich nicht erklären kann, warum das Konvolut der Briefe seine Adressaten nicht erreichte. Und der Bürgermeister, der viele Worte findet, aber wenig sagt.
Das Ergebnis dieser dokumentarischen Methode ergibt ein Bild deutscher Wirklichkeit nach der Wiedervereinigung. Die Opfer radikaler Gewalt werden marginalisiert, die Behörden geben ein Bild vollständiger Hilflosigkeit ab, und diejenigen, die ihre Stimme gegen das neue Selbstvertrauen der Rechtsextremen erheben, werden einfach nicht gehört. Für Ibrahim Arslan führte diese Situation zu einem jahrelangen Prozess der politischen und gesellschaftlichen Selbstfindung. Mühsam befreite er sich aus dem Trauma, das die Nacht der Brandstifter in ihm hinterließ. Er machte sich an die Aufklärungsarbeit – unter anderem in Schulen spricht er seitdem unermüdlich über seine Erfahrungen, und Priessners Film ist nicht zuletzt ein Porträt seines Engagements.
Andere aus einer Familie wie sein Bruder fanden nicht zu so viel Stärke: Namik fraß sich einen Speckpanzer an und versucht nun, seiner Essstörung Herr zu werden. Auch diese Auswirkungen des Anschlags beleuchtet Priessners Film, dem eindrucksvoll eine intensive Nähe zu den Personen gelingt. Gerne, dies ist die einzige Schwäche, hätte man dabei gewusst, welche Berufe sie heute ausüben oder wo sie wohnen.
Priessners Fokus liegt ganz und gar darauf, die Sünden zu beschreiben, die nicht allein der Novembernacht, sondern auch danach an Ibrahim Arslan und seinen Leidensgefährt:innen begangen wurden: Die Briefe, sagt Ibrahim, hätten ihnen Trost spenden können. Mit großen Einfühlungsvermögen verknüpft Priessner seine Erzählung mit Zitaten aus diesen Anschreiben, und während die Kamera dabei ist, kommt es sogar zu Begegnungen zwischen Arslan und einigen Absendern.
Die „Möllner Briefe“ verlassen nun Mölln. Sie finden eine neue Heimat im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, kurz DOMiD, in Köln. Hier werden sie von Mitarbeitenden mit weißen Stoffhandschuhen behutsam aus den Umschlägen gezogen und gewissenhaft in Stand gehalten. Es scheint ihr Schicksal zu sein, die Zeiten als Archivalien zu überstehen. Beim DOMiD aber kann man sicher sein, dass sie dies öffentlich tun.
Der Film feierte seine Premiere im Panorama der diesjährigen Berlinale und gewann den Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm. Er war Eröffnungsfilm des Internationalen Frauenfilmfest Dortmund-Köln und Gewinner des Robert Brodmann Preises 2025.
Zum Kinostart finden drei Premieren-Screenings in Anwesenheit der Regisseurin, der Protagonistinnen und Protagonisten sowie Cast & Crew statt:
Hamburg Mo, 15.09. – 19:30 Uhr, Abaton
Köln Di, 16.09. – 19:30 Uhr, Cinenova
Berlin Mi, 17.09. – 20:30 Uhr, Kulturbrauerei
Der Kinostart folgt am 25. September 2025.
1992 erschütterten die Brandanschläge von Rostock-Lichtenhagen und Mölln das wiedervereinigte Deutschland. Drei Menschen starben, viele überlebten traumatisiert – unter ihnen der damals siebenjährige İbrahim Arslan. Martina Priessners Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ erzählt nicht nur von den tödlichen rechtsradikalen Anschlägen, sondern von einem lange verdrängten Skandal: Hunderten von Solidaritätsbriefen, die den Opfern Trost hätten spenden können, aber im Archiv verschwanden.
Von Frank Olbert.
In den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen und Mölln zerplatzte 1992 der Traum, dass sich das wiedervereinigte Deutschland in ein besseres, weltoffeneres Land verwandelt hätte. Im Sommer und im Spätherbst dieses Jahres attackierten in Mecklenburg Rechtsradikale unter dem Applaus von bis zu 3.000 Zuschauern die Zentrale für Asylbewerber sowie ein Wohnheim für Vietnamesen, während in Schlewig-Holstein Neonazis zwei Häuser in Brand setzten, die von türkischen Familien bewohnt wurden. Drei Menschen starben in Mölln: Bahide Arslan (51), die ihrem Enkel İbrahim das Leben rettete, seine Schwester Yeliz Arslan (10) und seine Cousine Ayşe Yilmaz (14). İbrahim Arslan selbst war damals sieben Jahre alt und erlitt schwere Verletzungen. Er ist der Protagonist in Martina Priessners Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“.
Die Ereignisse des Jahres 1992 handelt Priessners Film eher knapp in einigen Bildern aus der „Tagesschau“ und mit Berichten der Zeitzeugen ab. Sie konzentiert sich auf einen anderen Vorgang, nämlich auf das lange Nachspiel zur Nacht auf den 23. November, das im Grunde bis zum heutigen Tag andauert und auch die Drehbarbeiten zu den „Möllner Briefen“ überdauert. In diesen Briefen werden die Stimmen von Hunderten von Absendern laut, die das „andere“ Deutschland repräsentieren. Sie bringen ihre Anteilnahme, ihren Schmerz und ihre Solidarität mit den betroffenen türkischen Familien zum Ausdruck. Vielfach sind es Kinder, die, wenn sie keine Worte finden, Bilder beilegen. Anderen ist die Wut anzumerken, die sie angesichts der rechtsradikal motivierten Verbrechen verspüren.
Die Opfer in Mölln allerdings bekamen diese Briefe nie zu Gesicht. Die Schreiben verschwanden im Stadtarchiv. Die Stimmen wurden gewissermaßen zum Schweigen gebracht.
Martina Priessners bringt diese Affäre, die man getrost einen Skandal nennen darf, ans Licht. Im Vordergrund steht dabei konsequent die Reaktion der Betroffenen, vor allem die von Ibrahim Arslan, der erst 2016 von den Briefen erfuhr, als eine Studentin bei ihren Nachforschungen zu den Anschlägen von Mölln auf sie stieß. Aber auch die Stadt lässt die Autorin fairerweise zu Wort kommen: den rechtschaffenen Archivar, der nur tat, wie ihm geheißen, und der sich nicht erklären kann, warum das Konvolut der Briefe seine Adressaten nicht erreichte. Und der Bürgermeister, der viele Worte findet, aber wenig sagt.
Das Ergebnis dieser dokumentarischen Methode ergibt ein Bild deutscher Wirklichkeit nach der Wiedervereinigung. Die Opfer radikaler Gewalt werden marginalisiert, die Behörden geben ein Bild vollständiger Hilflosigkeit ab, und diejenigen, die ihre Stimme gegen das neue Selbstvertrauen der Rechtsextremen erheben, werden einfach nicht gehört. Für Ibrahim Arslan führte diese Situation zu einem jahrelangen Prozess der politischen und gesellschaftlichen Selbstfindung. Mühsam befreite er sich aus dem Trauma, das die Nacht der Brandstifter in ihm hinterließ. Er machte sich an die Aufklärungsarbeit – unter anderem in Schulen spricht er seitdem unermüdlich über seine Erfahrungen, und Priessners Film ist nicht zuletzt ein Porträt seines Engagements.
Andere aus einer Familie wie sein Bruder fanden nicht zu so viel Stärke: Namik fraß sich einen Speckpanzer an und versucht nun, seiner Essstörung Herr zu werden. Auch diese Auswirkungen des Anschlags beleuchtet Priessners Film, dem eindrucksvoll eine intensive Nähe zu den Personen gelingt. Gerne, dies ist die einzige Schwäche, hätte man dabei gewusst, welche Berufe sie heute ausüben oder wo sie wohnen.
Priessners Fokus liegt ganz und gar darauf, die Sünden zu beschreiben, die nicht allein der Novembernacht, sondern auch danach an Ibrahim Arslan und seinen Leidensgefährt:innen begangen wurden: Die Briefe, sagt Ibrahim, hätten ihnen Trost spenden können. Mit großen Einfühlungsvermögen verknüpft Priessner seine Erzählung mit Zitaten aus diesen Anschreiben, und während die Kamera dabei ist, kommt es sogar zu Begegnungen zwischen Arslan und einigen Absendern.
Die „Möllner Briefe“ verlassen nun Mölln. Sie finden eine neue Heimat im Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, kurz DOMiD, in Köln. Hier werden sie von Mitarbeitenden mit weißen Stoffhandschuhen behutsam aus den Umschlägen gezogen und gewissenhaft in Stand gehalten. Es scheint ihr Schicksal zu sein, die Zeiten als Archivalien zu überstehen. Beim DOMiD aber kann man sicher sein, dass sie dies öffentlich tun.
Der Film feierte seine Premiere im Panorama der diesjährigen Berlinale und gewann den Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm. Er war Eröffnungsfilm des Internationalen Frauenfilmfest Dortmund-Köln und Gewinner des Robert Brodmann Preises 2025.
Zum Kinostart finden drei Premieren-Screenings in Anwesenheit der Regisseurin, der Protagonistinnen und Protagonisten sowie Cast & Crew statt:
Hamburg Mo, 15.09. – 19:30 Uhr, Abaton
Köln Di, 16.09. – 19:30 Uhr, Cinenova
Berlin Mi, 17.09. – 20:30 Uhr, Kulturbrauerei
Der Kinostart folgt am 25. September 2025.