Seit der Pandemie fragen wir in den KinoPerspektiven Menschen, die das Kino lieben, was mit ihm passiert. Diese Frage reicht weiter als bis ans Ende des shut-down und die Grenzen des Saals. Streamingportale geben uns, was wir angeblich wollen. Doch erreichen tut uns damit nicht unbedingt mehr, im Gegenteil, findet unser heutiger Autor, Filmstudent und Kinoverfechter.
Ein Gastbeitrag von Timothy Bidwell
Kinos in Köln kämpfen, Netflix schreibt Rekordzahlen. Ohne kulturpessimistisch sein zu wollen, gebe ich zu, dass mir das Sorgen bereitet.
Bela Tarr sagte einmal über das Schauen von Filmen: “People can choose. Either get fast food or eat a real homemade dinner.”
Meine Mitstudierenden und ich müssen uns als angehende Filmschaffende auch genauso entscheiden: Wollen wir selbst Fast Food herstellen oder Neues ausprobieren? Die Frage, wie wir Filme machen wollen, lässt sich aber kaum davon trennen, wie man sich diese in Zukunft ansieht. Wenn Hollywood uns von jeher Fast Food geliefert hat, dann sind Seiten wie Netflix der bequeme Lieferservice. Was bedeutet ihr Aufstieg für unsere Filmkultur?
Die Auswahl an Filmen, auf die ich aktuell zugreifen kann, erreicht absurde Ausmaße. Zahlreiche Filmfestivals präsentieren ihr Programm im Internet, Verleihe bieten einen Teil ihres Katalogs an, endlich könnte man sich dem kuratierten Programm von Mubi widmen. Seltsamerweise erlebe ich das aber nicht als Bereicherung. In den Tagen des shut-down ist etwas passiert, was ich nie für denkbar gehalten hätte: Ich habe begonnen, Filme auf seltsame Weise satt zu haben.
Wenn ich zum Kino in meinem Veedel gehe – in meinem Fall die Lichtspiele Kalk –, finde ich eine Handvoll Filme, aus denen ich wählen kann. Vielleicht langweilt oder ärgert mich meine Auswahl. Ich kann mich entscheiden, ob ich schimpfend sitzenbleibe oder meine 8,- Euro opfere und gehe. Vielleicht berührt mich der Film aber und schafft es, während ich ihn mir zu eigen mache – ihn mir anverwandle – auch mich ein Stück weit zu verwandeln. Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet dies als Resonanzerfahrung. Der Film spricht zu mir, und nach dem Ansehen bin ich ein anderer. In seinem Essay „Unverfügbarkeit“ schreibt Rosa weiter, dass sich uns Dinge immer ein Stück weit entziehen müssen, um Resonanz erzeugen zu können: „Wäre meine Katze ein programmierter Roboter, der immer schnurrt und gekrault werden will, würde sie mir zum toten Ding“.
Je verfügbarer die Welt wird, desto weniger Resonanz ist möglich
Heute tragen wir Bilder, Filme und Daten virtuell immerzu bei uns. Paradoxerweise erreichen sie uns dabei jedoch nicht in höherem Maße, sondern im Gegenteil immer weniger. Wieder gilt: Umso verfügbarer die Welt uns wird, desto weniger Resonanz erfahren wir. Während im Kino ein Film ankommt und wieder geht, ist er auf Streamingportalen plötzlich da und bleibt für immer, reiht sich in abertausende von Seinesgleichen ein, die um meine Zeit und Aufmerksamkeit buhlen. Rasch wirken die Filme, die mich ködern wollen, in ihrer Vielzahl beliebig. Ich stehe vor ihnen, wie ein Kind im Süßigkeitengeschäft: Ich wähle ein Bonbon, will dann doch ein anderes… Ich probiere mich durch, bis mir schlecht wird oder ich nichts mehr schmecke.
Worin liegt die ködernde Wirkung von Bewegtbildern, ihr Suchtfaktor? Andrej Tarkowskij stellte in seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ eine interessante These auf. Ihm zufolge sind Filme, die uns die lustigsten, schrecklichsten und actionreichsten Erlebnisse im Schnelldurchlauf zeigen, dazu da, ein „geistige(s) Vakuum“ in uns aufzufüllen. Weil wir in routinierten Tagesabläufen und hochspezifischen Berufen wenig Neues erfahren, fühlen wir ein Verlangen, diese Erfahrung in kondensierter Form aufzunehmen. Wir lassen uns beim Schauen eines Films nicht passiv berieseln, sondern holen uns aktiv zurück, was uns in fragmentierten Lebenswelten abhanden gekommen ist. Doch wie kommt es dann, dass ich ausgerechnet in der Quarantäne keine Lust auf Filme habe?
Das Streamingportal ist die sichere Heimat der digitalen Monaden
Die magische Kraft von Film – seine Fähigkeit, die Leerstellen unserer Erfahrung aufzufüllen – verlangt nach einer räumlichen und zeitlichen Eingrenzung. Bei jedem Zaubertrick funktioniert die Magie nur, wenn sich uns das Gezeigte als unaufhaltbar präsentiert, von fremder Macht gesteuert. Auch im Kino vollzieht sich der Zauber ohne mein Zutun, doch weil er zu mir individuell spricht und dies inmitten anderer Menschen tut, fühle ich mich als Subjekt einer Gemeinschaft aktiviert. Zuhause hingegen, wenn ich streame, spiele ich mir auf Knopfdruck den Zaubertrick selbst vor. Der individuelle Vorführzeitpunkt, den ich wähle, auch der Algorithmus, der mich mit maßgeschneidertem Programm ködert – all das, was vorauseilende Apologeten einer neuen Ära fälschlicherweise als Aktivität beschreiben –, verstärken in Wahrheit nur mein Gefühl von Passivität. Ich-bezogen bezaubere ich mich selbst und zementiere damit mein Dasein als Monade in der Welt.
Die wenigsten Leute wollen wohl von Netflix-Filmen verzaubert werden, doch ich glaube ihnen auch nicht, dass Netflix ihnen „beim Entspannen“ hilft. Was soll das überhaupt heißen? Gedankenlose Zerstreuung bietet Film doch nicht mehr, seit er die Jahrmärkte verlassen hat (wenn man das Experimentalkino beiseite lässt). Im narrativen Film muss ich permanent Codes entschlüsseln, muss Handlungen verstehen, die meine Konzentration und mein kognitives Verständnis fordern.
Das „Abschalten des Denkens“, das der Mainstream verspricht, ist höchstens eine bequeme Begrenzung des Denkens: das Versprechen von bekannten Konventionen, Figuren und Geschichten. Darum geht es eigentlich: Wie weit möchte ich mich beim Schauen eines Films von dem entfernen, was ich bereits kenne?
Netflix designt seinen hauseigenen content nach der Auswertung von Zuschauerzahlen. Die Filme, die uns aus der Reserve locken und uns so zu fühlenden Subjekten machen, jene Filme, die uns, mit Kafkas Worten, „beißen und stechen“, drohen dadurch seltener zu werden. Ted Sarandos und die anderen Herren des kulturellen Biedermeier wollen gar nicht, dass wir das „gefrorene Meer“ in uns aufbrechen. Wir sollen emotional und sensorisch vereist bleiben, um weiterhin das Bedürfnis nach neuen Bildern zu haben.
Kommt eine neue Ära der Filmkultur, die rein digital ist? Ich bin überzeugt davon, dass wir Menschen vielfältige Möglichkeiten geben sollten, einen Film anzusehen. Doch bis mich jemand vom Gegenteil überzeugt, bleibt für mich das Kino, auch oder gerade heute der einzige Ort, an dem mich ein Film wahrhaftig erreicht. Das schreibe ich als Filmemacher, doch vor allem als Zuschauer.
Timothy Bidwell studiert an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Wenn Sie nicht seiner Meinung sind, freuen wir uns über eine Diskussion. Schreiben Sie einen Kommentar oder senden Sie uns eine Antwort an info@filmszene.koeln
Seit der Pandemie fragen wir in den KinoPerspektiven Menschen, die das Kino lieben, was mit ihm passiert. Diese Frage reicht weiter als bis ans Ende des shut-down und die Grenzen des Saals. Streamingportale geben uns, was wir angeblich wollen. Doch erreichen tut uns damit nicht unbedingt mehr, im Gegenteil, findet unser heutiger Autor, Filmstudent und Kinoverfechter.
Ein Gastbeitrag von Timothy Bidwell
Kinos in Köln kämpfen, Netflix schreibt Rekordzahlen. Ohne kulturpessimistisch sein zu wollen, gebe ich zu, dass mir das Sorgen bereitet.
Bela Tarr sagte einmal über das Schauen von Filmen: “People can choose. Either get fast food or eat a real homemade dinner.”
Meine Mitstudierenden und ich müssen uns als angehende Filmschaffende auch genauso entscheiden: Wollen wir selbst Fast Food herstellen oder Neues ausprobieren? Die Frage, wie wir Filme machen wollen, lässt sich aber kaum davon trennen, wie man sich diese in Zukunft ansieht. Wenn Hollywood uns von jeher Fast Food geliefert hat, dann sind Seiten wie Netflix der bequeme Lieferservice. Was bedeutet ihr Aufstieg für unsere Filmkultur?
Die Auswahl an Filmen, auf die ich aktuell zugreifen kann, erreicht absurde Ausmaße. Zahlreiche Filmfestivals präsentieren ihr Programm im Internet, Verleihe bieten einen Teil ihres Katalogs an, endlich könnte man sich dem kuratierten Programm von Mubi widmen. Seltsamerweise erlebe ich das aber nicht als Bereicherung. In den Tagen des shut-down ist etwas passiert, was ich nie für denkbar gehalten hätte: Ich habe begonnen, Filme auf seltsame Weise satt zu haben.
Wenn ich zum Kino in meinem Veedel gehe – in meinem Fall die Lichtspiele Kalk –, finde ich eine Handvoll Filme, aus denen ich wählen kann. Vielleicht langweilt oder ärgert mich meine Auswahl. Ich kann mich entscheiden, ob ich schimpfend sitzenbleibe oder meine 8,- Euro opfere und gehe. Vielleicht berührt mich der Film aber und schafft es, während ich ihn mir zu eigen mache – ihn mir anverwandle – auch mich ein Stück weit zu verwandeln. Der Soziologe Hartmut Rosa bezeichnet dies als Resonanzerfahrung. Der Film spricht zu mir, und nach dem Ansehen bin ich ein anderer. In seinem Essay „Unverfügbarkeit“ schreibt Rosa weiter, dass sich uns Dinge immer ein Stück weit entziehen müssen, um Resonanz erzeugen zu können: „Wäre meine Katze ein programmierter Roboter, der immer schnurrt und gekrault werden will, würde sie mir zum toten Ding“.
Je verfügbarer die Welt wird, desto weniger Resonanz ist möglich
Heute tragen wir Bilder, Filme und Daten virtuell immerzu bei uns. Paradoxerweise erreichen sie uns dabei jedoch nicht in höherem Maße, sondern im Gegenteil immer weniger. Wieder gilt: Umso verfügbarer die Welt uns wird, desto weniger Resonanz erfahren wir. Während im Kino ein Film ankommt und wieder geht, ist er auf Streamingportalen plötzlich da und bleibt für immer, reiht sich in abertausende von Seinesgleichen ein, die um meine Zeit und Aufmerksamkeit buhlen. Rasch wirken die Filme, die mich ködern wollen, in ihrer Vielzahl beliebig. Ich stehe vor ihnen, wie ein Kind im Süßigkeitengeschäft: Ich wähle ein Bonbon, will dann doch ein anderes… Ich probiere mich durch, bis mir schlecht wird oder ich nichts mehr schmecke.
Worin liegt die ködernde Wirkung von Bewegtbildern, ihr Suchtfaktor? Andrej Tarkowskij stellte in seinem Buch „Die versiegelte Zeit“ eine interessante These auf. Ihm zufolge sind Filme, die uns die lustigsten, schrecklichsten und actionreichsten Erlebnisse im Schnelldurchlauf zeigen, dazu da, ein „geistige(s) Vakuum“ in uns aufzufüllen. Weil wir in routinierten Tagesabläufen und hochspezifischen Berufen wenig Neues erfahren, fühlen wir ein Verlangen, diese Erfahrung in kondensierter Form aufzunehmen. Wir lassen uns beim Schauen eines Films nicht passiv berieseln, sondern holen uns aktiv zurück, was uns in fragmentierten Lebenswelten abhanden gekommen ist. Doch wie kommt es dann, dass ich ausgerechnet in der Quarantäne keine Lust auf Filme habe?
Das Streamingportal ist die sichere Heimat der digitalen Monaden
Die magische Kraft von Film – seine Fähigkeit, die Leerstellen unserer Erfahrung aufzufüllen – verlangt nach einer räumlichen und zeitlichen Eingrenzung. Bei jedem Zaubertrick funktioniert die Magie nur, wenn sich uns das Gezeigte als unaufhaltbar präsentiert, von fremder Macht gesteuert. Auch im Kino vollzieht sich der Zauber ohne mein Zutun, doch weil er zu mir individuell spricht und dies inmitten anderer Menschen tut, fühle ich mich als Subjekt einer Gemeinschaft aktiviert. Zuhause hingegen, wenn ich streame, spiele ich mir auf Knopfdruck den Zaubertrick selbst vor. Der individuelle Vorführzeitpunkt, den ich wähle, auch der Algorithmus, der mich mit maßgeschneidertem Programm ködert – all das, was vorauseilende Apologeten einer neuen Ära fälschlicherweise als Aktivität beschreiben –, verstärken in Wahrheit nur mein Gefühl von Passivität. Ich-bezogen bezaubere ich mich selbst und zementiere damit mein Dasein als Monade in der Welt.
Die wenigsten Leute wollen wohl von Netflix-Filmen verzaubert werden, doch ich glaube ihnen auch nicht, dass Netflix ihnen „beim Entspannen“ hilft. Was soll das überhaupt heißen? Gedankenlose Zerstreuung bietet Film doch nicht mehr, seit er die Jahrmärkte verlassen hat (wenn man das Experimentalkino beiseite lässt). Im narrativen Film muss ich permanent Codes entschlüsseln, muss Handlungen verstehen, die meine Konzentration und mein kognitives Verständnis fordern.
Das „Abschalten des Denkens“, das der Mainstream verspricht, ist höchstens eine bequeme Begrenzung des Denkens: das Versprechen von bekannten Konventionen, Figuren und Geschichten. Darum geht es eigentlich: Wie weit möchte ich mich beim Schauen eines Films von dem entfernen, was ich bereits kenne?
Netflix designt seinen hauseigenen content nach der Auswertung von Zuschauerzahlen. Die Filme, die uns aus der Reserve locken und uns so zu fühlenden Subjekten machen, jene Filme, die uns, mit Kafkas Worten, „beißen und stechen“, drohen dadurch seltener zu werden. Ted Sarandos und die anderen Herren des kulturellen Biedermeier wollen gar nicht, dass wir das „gefrorene Meer“ in uns aufbrechen. Wir sollen emotional und sensorisch vereist bleiben, um weiterhin das Bedürfnis nach neuen Bildern zu haben.
Kommt eine neue Ära der Filmkultur, die rein digital ist? Ich bin überzeugt davon, dass wir Menschen vielfältige Möglichkeiten geben sollten, einen Film anzusehen. Doch bis mich jemand vom Gegenteil überzeugt, bleibt für mich das Kino, auch oder gerade heute der einzige Ort, an dem mich ein Film wahrhaftig erreicht. Das schreibe ich als Filmemacher, doch vor allem als Zuschauer.
Timothy Bidwell studiert an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Wenn Sie nicht seiner Meinung sind, freuen wir uns über eine Diskussion. Schreiben Sie einen Kommentar oder senden Sie uns eine Antwort an info@filmszene.koeln