Viele Länder in Südamerika sind aktuell stark von politischen Umbrüchen und sozialen Bewegungen geprägt. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben naturgemäß ihre Spuren im lateinamerikanischen Kino hinterlassen, für das schon lange gesellschaftliche Themen von ganz zentraler Bedeutung sind. Davon, und die Vielfätigkeit des aktuellen lateinamerikanischen Filmschaffens können wir uns vom 7. bis 12. Juni wieder bei dem Kölner Festival Kino Latino im Filmhaus überzeugen.
Die 17. Ausgabe des Filmfests für den Lateinamerikanischen Film eröffnet mit der Premiere von „Sleep with your eyes open“ in Anwesenheit der Regisseurin Nele Wohlatz. Weitere Highlights sind der Dokumentarfilm „This is our everything“ über Waldschützer, die im brasilianischen Regenwald gegen illegale Holzfäller kämpfen, und einer der besten Lateinamerikanischen Filme der letzten Jahre „Los reyes del mundo“ mit dem Regisseurin Laura Mora den Hauptpreis beim Filmfestival in San Sebastián gewann: ein Junge aus Medellin bekommt ein früheres Landstück seiner Großmutter zugesprochen und macht sich mit seinen Freunden auf den abenteuerlichen Weg ins kolumbianische Hinterland. Abschlussfilm ist „Das Land der verlorenen Kinder“ von Juan Camilo Cruz & Marc Wiese über eine verlorene Generation in Venezuela.
Ich sprach mit Festivalleiterin und Kuratorin Sonja Hofmann über die diesjährige Ausgabe.
Werner Busch: Soziale und politische Umbrüche bestimmen gerade viele Länder in Südamerika. Welche Bedeutung hat die filmische Auseinandersetzung mit diesen Themen für das lateinamerikanische Kino?
Sonja Hofmann: Das lateinamerikanische Kino setzt sich traditionell seit der Gründung der Bewegung des sogegannten „Neuen Lateinamerikanischen Films“ der 1960er-Jahre sehr stark mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen des Kontinents auseinander. Die Filme spiegeln häufig die großen sozialen Gefälle der Lebensumstände, politische und soziale Unruhen, bewaffnete Konflikte, Migrationsbewegungen, sowie die Auswirkungen der Zerstörung des Regenwaldes auf indigene Gemeinschaften und ihren Lebensraum.
Wie werden die aktuelle politischen Ereignisse in den Festival-Filmen dargestellt?
Sehr besonders an unserer diesjährigen Ausgabe: wir zeigen gleich zwei Filme aus Venezuela, einen Spiel- und einen Dokumentarfilm, die sich jeweils mit der Lebensrealität dort befassen. Der Spielfilm „Mi tia Gilma“ gibt einen Einblick in den Alltag und die sozialen Missstände der Hauptstadt Caracas, in der das junge Mädchens Isabel bei ihrer Tante aufwächst. Der Dokumentarfilm „Das Land der verlorenen Kinder“, der gerade Premiere beim DOK.fest München feierte, ist ein Zustandsbericht über die gewaltvolle Lebensrealität von Kindern in Venezuela.
Außerdem haben wir zwei Filme aus Kolumbien im Programm: „Yo vi tres luces negras“, den wir auf der Berlinale entdeckt haben und der sich mit kollektiver Erinnerung und bewaffneten Konflikten an der Pazifikküste befasst und zugleich sehr meditativ und bildgewaltig den Dschungel als magische Passage in Szene setzt. Sowie den Gewinnerfilm aus San Sebastián „Los reyes del mundo“, der sich mit der Vertreibung tausender Familien durch die Paramilitärs beschäftigt und die kolumbianische Natur in einem packenden Roadmovie einfängt.
Der Film „This is our everything“ wiederum behandelt die Gefährdung der Lebensrealität und kulturellen Identität indigener Gemeinschaften im brasilianischen Regenwald.
Was zeichnet in filmkünstlerischer Sicht diese Werke aus?
Bei vielen Filmen hat mich die bereits erwähnte Verbindung starker politisch-sozialer Themen mit einer bildgewaltigen Naturdarstellung sehr beeindruckt. Besonders herausragend ist die Natur im ecuadorianischen Beitrag „La piel pulpo“ in Szene gesetzt. Der Film von Regisseurin Ana Cristina Barragán, die wir via Zoom aus Ecuador ins Kino holen werden, ist auf den Galápagos-Inseln gedreht worden und zeigt die ungewöhnliche Verbindung zweier Geschwister mit dem Meer, den Meerestieren, dem Licht …
Welche persönlichen Highlights oder besondere Gäste des diesjährigen Festivals möchtest du außerdem herausstellen?
Unser Eröffnungsfilm „Dormir de olhos abertos“ beschäftigt sich mit dem ebenfalls sehr aktuellen Thema der Arbeitsmigration in einer brasilianischen Küstenmetropole. Wir freuen uns sehr, dass die Regisseurin Nele Wohlatz mit Produzentin Meike Martens heute Abend zu Gast sein werden, um mit uns die NRW-Premiere des Films zu feiern.
Interview: Werner Busch
Kino Latino 7.-12. Juni 2024 Filmhaus Kino Köln
Spielplan:
07.06. 20.00 Uhr Eröffnung: Dormir de olhos abertos (OmU) mit Gästen
08.06. 18.00 Uhr This is our Everything (OmU) mit Gästen 08.06. 20.30 Uhr Los Reyes del Mundo (OmeU)
09.06. 17.30 Uhr Saudade fez morada aqui dentro (OmeU) 09.06. 20.00 Uhr La Piel Pulpo (OmeU)
10.06. 18.30 Uhr Mi Tia Gilma (OmeU) 10.06. 20.00 Uhr Kino Latino Kurzfilme (OmeU)
11.06. 18.00 Uhr Almamula (OmU) 11.06. 20.00 Uhr Yo Vi Tres Luces Negras (OmeU)
12.06. 20.00 Uhr Das Land der verlorenen Kinder (OmU) mit Gästen
Eine Küstenmetropole in Brasilien. Kai landet mit gebrochenem Herzen aus Taiwan, um Ferien zu machen. Eine kaputte Klimaanlage führt sie in das Regenschirmgeschäft von Fu Ang. Er könnte ein Freund werden, doch die Regenzeit bleibt aus und sein Geschäft verschwindet. Auf der Suche nach Fu Ang trifft Kai auf Xiaoxin und eine Gruppe chinesischer Arbeiter in einem noblen Wolkenkratzer. Hauptfiguren kommen und gehen unverhofft in dieser leisen Komödie der Missverständnisse, dargestellt durch Laien und Schauspieler*innen. Von einer fremden Stadt in die nächste folgen sie mehr den Notwendigkeiten der Arbeit als einer klassischen Dramaturgie. Aber im Laufe eines heißen, langsamen Sommers wachsen zarte Bindungen zwischen ihnen wie Inseln in einem Meer voller Haie – Produziert u.a. von Kleber Mendonça Filho (Recife), Weltpremiere im Wettbewerb Encouters Berlinale 2024
Samstag, 8. Juni, 18.00 Uhr THIS IS OUR EVERYTHING Deutschland 2023 | 81 Min. | Portugiesisch, Guajajara, dt.UT | Regie: Frederik Subei
Gäste: Frederik Subei (Regie, Produktion), Manuel Domes (Produktion)
Die indigenen Guajajara leben zusammen mit den bis jetzt noch unkontaktierten Awá im brasilianischen Regenwald im Bundesstaat Maranhão. Doch illegale Holzfäller zerstören ihren Lebensraum. Und Olimpio ist der Holzfällermafia ein Dorn im Auge, organisiert er doch regelmäßige Patrouillen durch die verbliebenen Regenwälder. Ohne Unterstützung der Regierung durchkämmen er und andere Aktivisten ihr Land, um gegen die kriminellen Banden vorzugehen. Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte eines Volkes, dessen Welt scheinbar um sie herum zusammenbricht. Er folgt Olimpio und den anderen Waldschützern hautnah mit der Kamera – für sie steht mehr auf dem Spiel als Umweltschutz: der Wald ist das Herzstück ihrer Kultur und Identität! Filmfest Hamburg 2023
Samstag, 8. Juni, 20.30 Uhr LOS REYES DEL MUNDO Kolumbien/Mexiko/Norwegen/Frankreich/Luxemburg 2022 | 111 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Laura Mora Mit: Carlos Andrés Castañeda, Davidson Andrés Flórez, Cristian Camilo David Mora u.a.
Rá lebt mit seinen Freunden Culebro, Sere, Winny und Nano auf den Straßen Medellins. Doch Hoffnung ist in Sicht für die Jungs: Die Regierung hat Rá das Recht an einem Stück Land zugesprochen, von dem seine Familie einst wie Tausende andere Kolumbianer von den Paramilitärs vertrieben worden ist. So machen sich die Freunde auf den gefährlichen Weg ins kolumbianische Hinterland. Es ist der Beginn einer Reise zwischen Abenteuer und Delirium. Regisseurin Laura Mora setzt die kolumbianische Natur eindrücklich in Szene und erzählt in atemberaubenden Bildern und mystischen Traumsequenzen von der Suche fünf streunender Taugenichtse nach Glück und Gerechtigkeit. Goldene Muschel beim Filmfestival San Sebastián 2022!
Sonntag, 9. Juni, 17.30 Uhr SAUDADE FEZ MORADA AQUI DENTRO Brasilien 2023 | 107 Min. | Portugiesisch, engl.UT | Regie: Haroldo Borges Mit: Bruno Jefferson, Ângela Maria, Ronnaldy Gomes
Der 15-jährige Bruno lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder Ronny in einem kleinen Dorf im brasilianischen Bahía. Eines Tages wird bei ihm eine Augenkrankheit diagnostiziert, die zur Erblindung führen kann. Dem Jungen fällt es schwer zu akzeptieren, dass sich sein Leben drastisch verändern wird. Doch seine Familie, seine beste Freundin Angela und der Lehrer Vinicius unterstützen ihn. Dann trifft Bruno Terena, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Mitten im schlimmsten Gefühlschaos lernt Bruno, auf seine Fähigkeiten zu vertrauen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Mit unglaublichem Fingerspitzengefühl lässt uns Regisseur Haroldo Borges in Brunos Lebenswelt eintauchen. Die Handkamera bleibt nah an den Figuren und die Laiendarsteller*innen verleihen dem Film seine „dokumentarische Seele“ – Preis als Bester Film bei den Festivals in Mar del Plata, Buenos Aires und Rio de Janeiro!
Sonntag, 9. Juni, 20.00 Uhr LA PIEL PULPO Ecuador/Mexiko/Deutschland/Frankreich/Griechenland 2022 | 101 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Ana Cristina Barragán Mit: Isadora Chávez, Juan Francisco Vinueza, Hazel Powel, Cristina Marchán
Iris und ihr Zwillingsbruder Ariel leben gemeinsam mit ihrer Mutter und älteren Schwester auf einer Insel. Sie fühlen sich mit der Natur stark verbunden, kommunizieren weniger mit Worten als mit Berührungen. Das Verhältnis der Zwillinge ist äußerst innig, wird aber auf die Probe gestellt, als Iris einen Solo-Ausflug zum Festland macht und sich auf die Suche nach ihrem Vater macht. „Grenzen diffundieren zwischen Mensch und Tier, Selbst und Anderen – die Haut nicht als Barriere sondern Membran. Bei Barragán scheint die Kamera ein Instrument zur Aufzeichnung nicht nur von Licht, sondern taktiler Empfindung.“ Filmfest München 2023
Montag, 10. Juni, 18.30 Uhr MI TIA GILMA Venezuela/Peru/Brasilien 2023 | 82 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Alexandra Henao Mit: Maryale Benites, Diana Peñalver Denis, Luis Domingo Gonzalez u.a.
Die 13-jährige Isabel lebt bei ihrer Tante Gilma in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Als Gilma ins Krankenhaus eingeliefert wird, nachdem sie von ihrem Partner Rafael verprügelt wurde, stellen die Ärzte eine weitere Erkrankung fest, die eine Operation erfordert. Inmitten des Chaos politischer und sozialer Ungerechtigkeiten, die Isabel umgeben, tut sie alles, um ihrer Tante zu helfen und ein Versprechen zu halten. „Mi tía Gilma“ ist Alexandra Henaos Regiedebüt. Für Starthilfe sorgen Produzent Beto Benites und Editorin Marité Ugás, die 2013 im Festivalerfolg „Pelo Malo“ einem Jungen mit widerspenstigen Locken durch Caracas schickten. Benites‘ Tochter Maryale spielt Isabel mit praller Energie, eine Leistung, die lange in Erinnerung bleibt!
Montag, 10. Juni, 20.00 Uhr
KINO LATINO KURZFILMPROGRAMM CUANDO LLEGUE LA NEBLINA Deutschland/Mexiko 2023 | 23 Min. | Spanisch, dt.UT | Regie: Laurentia Genske Wenn der Nebel kommt, sind die Chancen am größten, den Grenzzaun zu überwinden. Isan und Miche aus Haiti sowie der Mexikaner José Luís versuchen immer wieder ihr Glück. In einer Verflechtung von Fotografien, Animationen und Tonaufnahmen taucht der Film ein in die Lebenswelten der Menschen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze eine.
ARIBADA Deutschland/Kolumbien 2022 | 30 Min. | Emberá-Chamí, engl.UT | Regie: Simon(e) Jaikiriuma Paetau & Natalia Escobar Das Magische, das Traumhafte und das Performative koexistieren in der besonderen Welt von Las Traviesas, einer Gruppe Transfrauen vom indigenen Volk der Emberá. Sie leben und arbeiten in der Kaffeeregion Kolumbiens. In einer Mischung aus Dokumentarfilm und Fiktion wird ihr Kampf für das Bewahren der indigenen Identität nachgezeichnet wird.
EL CORRAL Kolumbien 2019 | 22 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Alfredo Marimon & Angie Daniela López Moreno Eine Fischergemeinde in der Karibik vor der Trockenzeit. An sonnigen Nachmittagen treffen sich die Fischer im Schatten der „Enramada“, einer Hütte ohne Wände, am Flussufer, um dort, im Santuario „Cienaga“, ihre freie Zeit zu verbringen. Im Privaten zeigt sich hier das wahre Leben eines Fischers in Kolumbien.
Dienstag, 11. Juni, 18.00 Uhr ALMAMULA Argentinien/Frankreich/Italien 2023 | 94 Min. | Spanisch, dt.UT | Regie: Juan Sebastián Torales Mit: Nicolás Díaz, Martina Grimaldi, María Soldi u.a.
Santiago del Estero, Nordargentinien. Nino ist für andere Jungs angeblich ein schlechter Einfluss. Vorübergehend ziehen seine Eltern mit ihm aufs Land. Dort wandert er durch einen Wald, wo angeblich das Monster Almamula diejenigen holt, die fleischliche Sünden und unreine Handlungen begehen. Es ist Sommer: Die Körper schwitzen, die Grenze zwischen Traum und Realität verwischt. Ein Junge verschwindet. Und in Nino erwachen Neugier und Begehren… Der vielschichtige Film beschreibt sexuelles Erwachen und Konfirmation als Antipoden eines Lebens, das zwischen religiöser Schuld, jugendlichem Begehren und gesellschaftlicher Verachtung keinen Ausweg findet.
Dienstag, 11. Juni, 20.00 Uhr YO VI TRES LUCES NEGRAS Kolumbien/Mexiko/Frankreich/Deutschland 2024 | 87 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Santiago Lozano Álvarez Mit: Jesús María Mina, Julián Ramirez, Carol Hurtado u.a.
Der 70-jährige José de los Santos hat schon als Kind die Kunst der rituellen Bestattung erlernt. Wie seine Vorfahren, die als afrikanische Sklaven an die kolumbianische Pazifikküste verschleppt wurden, begleitet er Sterbende und Tote auf ihrem Weg zur ewigen Ruhe. Eines Tages erscheint ihm der Geist seines Sohnes Pium-Pium, der vor Jahren brutal ermordet wurde, und kündigt José dessen bevorstehenden Tod an. Daraufhin tritt José seine letzte Reise an und begibt sich in den Dschungel, um dort einen Platz zum Sterben zu finden. Doch das Gebiet wird von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Er muss dem Feuer ihrer Waffen und der Gewalt entgehen, um seine Seele vor dem Fegefeuer zu retten. Berlinale 2024
Mittwoch, 12. Juni, 20.00 Uhr DAS LAND DER VERLORENEN KINDER Deutschland/Venezuela 2023 | 95 Min. | Spanisch, dt.UT | Regie: Juan Camilo Cruz & Marc Wiese
Gast: Marc Wiese (Regie)
Während Venezuela immer tiefer ins Chaos stürzt, sind Kinder besonders von der Not im Land betroffen. Millionen Minderjährige leben dort zurückgelassen oder als Waisen. Der Film erzählt von ihrer gewaltvollen Lebensrealität: er konfrontiert uns mit Kriminalität und Drogenmissbrauch, zeigt Kinder, die morden oder Neugeborene, die vor Hunger sterben. In Maracaibo kämpfen zwei Frauen auf unterschiedliche Weise gegen das Elend an: Während das Kinderheim von Carolina eine Oase inmitten von Gewalt und Entbehrungen ist, macht sich die alleinerziehende Kiara auf den beschwerlichen Weg nach Kolumbien, auf der Suche nach einem besseren Leben. Ein erschütternder Zustandsbericht über ein Land, das im Begriff ist, eine ganze Generation zu verlieren. DOK.fest München 2024.
Viele Länder in Südamerika sind aktuell stark von politischen Umbrüchen und sozialen Bewegungen geprägt. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben naturgemäß ihre Spuren im lateinamerikanischen Kino hinterlassen, für das schon lange gesellschaftliche Themen von ganz zentraler Bedeutung sind. Davon, und die Vielfätigkeit des aktuellen lateinamerikanischen Filmschaffens können wir uns vom 7. bis 12. Juni wieder bei dem Kölner Festival Kino Latino im Filmhaus überzeugen.
Die 17. Ausgabe des Filmfests für den Lateinamerikanischen Film eröffnet mit der Premiere von „Sleep with your eyes open“ in Anwesenheit der Regisseurin Nele Wohlatz. Weitere Highlights sind der Dokumentarfilm „This is our everything“ über Waldschützer, die im brasilianischen Regenwald gegen illegale Holzfäller kämpfen, und einer der besten Lateinamerikanischen Filme der letzten Jahre „Los reyes del mundo“ mit dem Regisseurin Laura Mora den Hauptpreis beim Filmfestival in San Sebastián gewann: ein Junge aus Medellin bekommt ein früheres Landstück seiner Großmutter zugesprochen und macht sich mit seinen Freunden auf den abenteuerlichen Weg ins kolumbianische Hinterland. Abschlussfilm ist „Das Land der verlorenen Kinder“ von Juan Camilo Cruz & Marc Wiese über eine verlorene Generation in Venezuela.
Ich sprach mit Festivalleiterin und Kuratorin Sonja Hofmann über die diesjährige Ausgabe.
Werner Busch: Soziale und politische Umbrüche bestimmen gerade viele Länder in Südamerika. Welche Bedeutung hat die filmische Auseinandersetzung mit diesen Themen für das lateinamerikanische Kino?
Sonja Hofmann: Das lateinamerikanische Kino setzt sich traditionell seit der Gründung der Bewegung des sogegannten „Neuen Lateinamerikanischen Films“ der 1960er-Jahre sehr stark mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen des Kontinents auseinander. Die Filme spiegeln häufig die großen sozialen Gefälle der Lebensumstände, politische und soziale Unruhen, bewaffnete Konflikte, Migrationsbewegungen, sowie die Auswirkungen der Zerstörung des Regenwaldes auf indigene Gemeinschaften und ihren Lebensraum.
Wie werden die aktuelle politischen Ereignisse in den Festival-Filmen dargestellt?
Sehr besonders an unserer diesjährigen Ausgabe: wir zeigen gleich zwei Filme aus Venezuela, einen Spiel- und einen Dokumentarfilm, die sich jeweils mit der Lebensrealität dort befassen. Der Spielfilm „Mi tia Gilma“ gibt einen Einblick in den Alltag und die sozialen Missstände der Hauptstadt Caracas, in der das junge Mädchens Isabel bei ihrer Tante aufwächst. Der Dokumentarfilm „Das Land der verlorenen Kinder“, der gerade Premiere beim DOK.fest München feierte, ist ein Zustandsbericht über die gewaltvolle Lebensrealität von Kindern in Venezuela.
Außerdem haben wir zwei Filme aus Kolumbien im Programm: „Yo vi tres luces negras“, den wir auf der Berlinale entdeckt haben und der sich mit kollektiver Erinnerung und bewaffneten Konflikten an der Pazifikküste befasst und zugleich sehr meditativ und bildgewaltig den Dschungel als magische Passage in Szene setzt. Sowie den Gewinnerfilm aus San Sebastián „Los reyes del mundo“, der sich mit der Vertreibung tausender Familien durch die Paramilitärs beschäftigt und die kolumbianische Natur in einem packenden Roadmovie einfängt.
Der Film „This is our everything“ wiederum behandelt die Gefährdung der Lebensrealität und kulturellen Identität indigener Gemeinschaften im brasilianischen Regenwald.
Was zeichnet in filmkünstlerischer Sicht diese Werke aus?
Bei vielen Filmen hat mich die bereits erwähnte Verbindung starker politisch-sozialer Themen mit einer bildgewaltigen Naturdarstellung sehr beeindruckt. Besonders herausragend ist die Natur im ecuadorianischen Beitrag „La piel pulpo“ in Szene gesetzt. Der Film von Regisseurin Ana Cristina Barragán, die wir via Zoom aus Ecuador ins Kino holen werden, ist auf den Galápagos-Inseln gedreht worden und zeigt die ungewöhnliche Verbindung zweier Geschwister mit dem Meer, den Meerestieren, dem Licht …
Welche persönlichen Highlights oder besondere Gäste des diesjährigen Festivals möchtest du außerdem herausstellen?
Unser Eröffnungsfilm „Dormir de olhos abertos“ beschäftigt sich mit dem ebenfalls sehr aktuellen Thema der Arbeitsmigration in einer brasilianischen Küstenmetropole. Wir freuen uns sehr, dass die Regisseurin Nele Wohlatz mit Produzentin Meike Martens heute Abend zu Gast sein werden, um mit uns die NRW-Premiere des Films zu feiern.
Interview: Werner Busch
Kino Latino 7.-12. Juni 2024
Filmhaus Kino Köln
Spielplan:
07.06. 20.00 Uhr Eröffnung: Dormir de olhos abertos (OmU) mit Gästen
08.06. 18.00 Uhr This is our Everything (OmU) mit Gästen
08.06. 20.30 Uhr Los Reyes del Mundo (OmeU)
09.06. 17.30 Uhr Saudade fez morada aqui dentro (OmeU)
09.06. 20.00 Uhr La Piel Pulpo (OmeU)
10.06. 18.30 Uhr Mi Tia Gilma (OmeU)
10.06. 20.00 Uhr Kino Latino Kurzfilme (OmeU)
11.06. 18.00 Uhr Almamula (OmU)
11.06. 20.00 Uhr Yo Vi Tres Luces Negras (OmeU)
12.06. 20.00 Uhr Das Land der verlorenen Kinder (OmU) mit Gästen
Spielort:
Filmhaus Kino Köln – Maybachstr. 111 – 50670 Köln
Tel. Kinokasse: 0221 – 33 770 515
kino@filmhaus-koeln.de
Freitag, 7, Juni, 20.00 Uhr – Eröffnungsfilm:
SLEEP WITH YOUR EYES OPEN – DORMIR DE OLHOS ABERTOS
Brasilien/Taiwan/Argentinien/Deutschland 2024 | 97 Min. | Portugiesisch/Spanisch/Mandarin/Englisch/Deutsch, dt.UT | Regie: Nele Wohlatz
Mit: Chen Xiao Xin, Wang Shin-Hong, Nahuel Pérez Biscayart u.a.
Gast: Nele Wohlatz (Regie), Meike Martens (Produktion)
Eine Küstenmetropole in Brasilien. Kai landet mit gebrochenem Herzen aus Taiwan, um Ferien zu machen. Eine kaputte Klimaanlage führt sie in das Regenschirmgeschäft von Fu Ang. Er könnte ein Freund werden, doch die Regenzeit bleibt aus und sein Geschäft verschwindet. Auf der Suche nach Fu Ang trifft Kai auf Xiaoxin und eine Gruppe chinesischer Arbeiter in einem noblen Wolkenkratzer.
Hauptfiguren kommen und gehen unverhofft in dieser leisen Komödie der Missverständnisse, dargestellt durch Laien und Schauspieler*innen. Von einer fremden Stadt in die nächste folgen sie mehr den Notwendigkeiten der Arbeit als einer klassischen Dramaturgie. Aber im Laufe eines heißen, langsamen Sommers wachsen zarte Bindungen zwischen ihnen wie Inseln in einem Meer voller Haie – Produziert u.a. von Kleber Mendonça Filho (Recife), Weltpremiere im Wettbewerb Encouters Berlinale 2024
Samstag, 8. Juni, 18.00 Uhr
THIS IS OUR EVERYTHING
Deutschland 2023 | 81 Min. | Portugiesisch, Guajajara, dt.UT | Regie: Frederik Subei
Gäste: Frederik Subei (Regie, Produktion), Manuel Domes (Produktion)
Die indigenen Guajajara leben zusammen mit den bis jetzt noch unkontaktierten Awá im brasilianischen Regenwald im Bundesstaat Maranhão. Doch illegale Holzfäller zerstören ihren Lebensraum. Und Olimpio ist der Holzfällermafia ein Dorn im Auge, organisiert er doch regelmäßige Patrouillen durch die verbliebenen Regenwälder. Ohne Unterstützung der Regierung durchkämmen er und andere Aktivisten ihr Land, um gegen die kriminellen Banden vorzugehen.
Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte eines Volkes, dessen Welt scheinbar um sie herum zusammenbricht. Er folgt Olimpio und den anderen Waldschützern hautnah mit der Kamera – für sie steht mehr auf dem Spiel als Umweltschutz: der Wald ist das Herzstück ihrer Kultur und Identität! Filmfest Hamburg 2023
Samstag, 8. Juni, 20.30 Uhr
LOS REYES DEL MUNDO
Kolumbien/Mexiko/Norwegen/Frankreich/Luxemburg 2022 | 111 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Laura Mora
Mit: Carlos Andrés Castañeda, Davidson Andrés Flórez, Cristian Camilo David Mora u.a.
Rá lebt mit seinen Freunden Culebro, Sere, Winny und Nano auf den Straßen Medellins. Doch Hoffnung ist in Sicht für die Jungs: Die Regierung hat Rá das Recht an einem Stück Land zugesprochen, von dem seine Familie einst wie Tausende andere Kolumbianer von den Paramilitärs vertrieben worden ist. So machen sich die Freunde auf den gefährlichen Weg ins kolumbianische Hinterland. Es ist der Beginn einer Reise zwischen Abenteuer und Delirium.
Regisseurin Laura Mora setzt die kolumbianische Natur eindrücklich in Szene und erzählt in atemberaubenden Bildern und mystischen Traumsequenzen von der Suche fünf streunender Taugenichtse nach Glück und Gerechtigkeit. Goldene Muschel beim Filmfestival San Sebastián 2022!
Sonntag, 9. Juni, 17.30 Uhr
SAUDADE FEZ MORADA AQUI DENTRO
Brasilien 2023 | 107 Min. | Portugiesisch, engl.UT | Regie: Haroldo Borges
Mit: Bruno Jefferson, Ângela Maria, Ronnaldy Gomes
Der 15-jährige Bruno lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder Ronny in einem kleinen Dorf im brasilianischen Bahía. Eines Tages wird bei ihm eine Augenkrankheit diagnostiziert, die zur Erblindung führen kann. Dem Jungen fällt es schwer zu akzeptieren, dass sich sein Leben drastisch verändern wird. Doch seine Familie, seine beste Freundin Angela und der Lehrer Vinicius unterstützen ihn. Dann trifft Bruno Terena, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Mitten im schlimmsten Gefühlschaos lernt Bruno, auf seine Fähigkeiten zu vertrauen und die Welt mit anderen Augen zu sehen.
Mit unglaublichem Fingerspitzengefühl lässt uns Regisseur Haroldo Borges in Brunos Lebenswelt eintauchen. Die Handkamera bleibt nah an den Figuren und die Laiendarsteller*innen verleihen dem Film seine „dokumentarische Seele“ – Preis als Bester Film bei den Festivals in Mar del Plata, Buenos Aires und Rio de Janeiro!
Sonntag, 9. Juni, 20.00 Uhr
LA PIEL PULPO
Ecuador/Mexiko/Deutschland/Frankreich/Griechenland 2022 | 101 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Ana Cristina Barragán
Mit: Isadora Chávez, Juan Francisco Vinueza, Hazel Powel, Cristina Marchán
Iris und ihr Zwillingsbruder Ariel leben gemeinsam mit ihrer Mutter und älteren Schwester auf einer Insel. Sie fühlen sich mit der Natur stark verbunden, kommunizieren weniger mit Worten als mit Berührungen. Das Verhältnis der Zwillinge ist äußerst innig, wird aber auf die Probe gestellt, als Iris einen Solo-Ausflug zum Festland macht und sich auf die Suche nach ihrem Vater macht.
„Grenzen diffundieren zwischen Mensch und Tier, Selbst und Anderen – die Haut nicht als Barriere sondern Membran. Bei Barragán scheint die Kamera ein Instrument zur Aufzeichnung nicht nur von Licht, sondern taktiler Empfindung.“ Filmfest München 2023
Montag, 10. Juni, 18.30 Uhr
MI TIA GILMA
Venezuela/Peru/Brasilien 2023 | 82 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Alexandra Henao
Mit: Maryale Benites, Diana Peñalver Denis, Luis Domingo Gonzalez u.a.
Die 13-jährige Isabel lebt bei ihrer Tante Gilma in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Als Gilma ins Krankenhaus eingeliefert wird, nachdem sie von ihrem Partner Rafael verprügelt wurde, stellen die Ärzte eine weitere Erkrankung fest, die eine Operation erfordert. Inmitten des Chaos politischer und sozialer Ungerechtigkeiten, die Isabel umgeben, tut sie alles, um ihrer Tante zu helfen und ein Versprechen zu halten.
„Mi tía Gilma“ ist Alexandra Henaos Regiedebüt. Für Starthilfe sorgen Produzent Beto Benites und Editorin Marité Ugás, die 2013 im Festivalerfolg „Pelo Malo“ einem Jungen mit widerspenstigen Locken durch Caracas schickten. Benites‘ Tochter Maryale spielt Isabel mit praller Energie, eine Leistung, die lange in Erinnerung bleibt!
Montag, 10. Juni, 20.00 Uhr
KINO LATINO KURZFILMPROGRAMM
CUANDO LLEGUE LA NEBLINA
Deutschland/Mexiko 2023 | 23 Min. | Spanisch, dt.UT | Regie: Laurentia Genske
Wenn der Nebel kommt, sind die Chancen am größten, den Grenzzaun zu überwinden. Isan und Miche aus Haiti sowie der Mexikaner José Luís versuchen immer wieder ihr Glück. In einer Verflechtung von Fotografien, Animationen und Tonaufnahmen taucht der Film ein in die Lebenswelten der Menschen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze eine.
ARIBADA
Deutschland/Kolumbien 2022 | 30 Min. | Emberá-Chamí, engl.UT | Regie: Simon(e) Jaikiriuma Paetau & Natalia Escobar
Das Magische, das Traumhafte und das Performative koexistieren in der besonderen Welt von Las Traviesas, einer Gruppe Transfrauen vom indigenen Volk der Emberá. Sie leben und arbeiten in der Kaffeeregion Kolumbiens. In einer Mischung aus Dokumentarfilm und Fiktion wird ihr Kampf für das Bewahren der indigenen Identität nachgezeichnet wird.
EL CORRAL
Kolumbien 2019 | 22 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Alfredo Marimon & Angie Daniela López Moreno
Eine Fischergemeinde in der Karibik vor der Trockenzeit. An sonnigen Nachmittagen treffen sich die Fischer im Schatten der „Enramada“, einer Hütte ohne Wände, am Flussufer, um dort, im Santuario „Cienaga“, ihre freie Zeit zu verbringen. Im Privaten zeigt sich hier das wahre Leben eines Fischers in Kolumbien.
Dienstag, 11. Juni, 18.00 Uhr
ALMAMULA
Argentinien/Frankreich/Italien 2023 | 94 Min. | Spanisch, dt.UT | Regie: Juan Sebastián Torales
Mit: Nicolás Díaz, Martina Grimaldi, María Soldi u.a.
Santiago del Estero, Nordargentinien. Nino ist für andere Jungs angeblich ein schlechter Einfluss. Vorübergehend ziehen seine Eltern mit ihm aufs Land. Dort wandert er durch einen Wald, wo angeblich das Monster Almamula diejenigen holt, die fleischliche Sünden und unreine Handlungen begehen. Es ist Sommer: Die Körper schwitzen, die Grenze zwischen Traum und Realität verwischt. Ein Junge verschwindet. Und in Nino erwachen Neugier und Begehren…
Der vielschichtige Film beschreibt sexuelles Erwachen und Konfirmation als Antipoden eines Lebens, das zwischen religiöser Schuld, jugendlichem Begehren und gesellschaftlicher Verachtung keinen Ausweg findet.
Dienstag, 11. Juni, 20.00 Uhr
YO VI TRES LUCES NEGRAS
Kolumbien/Mexiko/Frankreich/Deutschland 2024 | 87 Min. | Spanisch, engl.UT | Regie: Santiago Lozano Álvarez
Mit: Jesús María Mina, Julián Ramirez, Carol Hurtado u.a.
Der 70-jährige José de los Santos hat schon als Kind die Kunst der rituellen Bestattung erlernt. Wie seine Vorfahren, die als afrikanische Sklaven an die kolumbianische Pazifikküste verschleppt wurden, begleitet er Sterbende und Tote auf ihrem Weg zur ewigen Ruhe. Eines Tages erscheint ihm der Geist seines Sohnes Pium-Pium, der vor Jahren brutal ermordet wurde, und kündigt José dessen bevorstehenden Tod an. Daraufhin tritt José seine letzte Reise an und begibt sich in den Dschungel, um dort einen Platz zum Sterben zu finden. Doch das Gebiet wird von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Er muss dem Feuer ihrer Waffen und der Gewalt entgehen, um seine Seele vor dem Fegefeuer zu retten. Berlinale 2024
Mittwoch, 12. Juni, 20.00 Uhr
DAS LAND DER VERLORENEN KINDER
Deutschland/Venezuela 2023 | 95 Min. | Spanisch, dt.UT | Regie: Juan Camilo Cruz & Marc Wiese
Gast: Marc Wiese (Regie)
Während Venezuela immer tiefer ins Chaos stürzt, sind Kinder besonders von der Not im Land betroffen. Millionen Minderjährige leben dort zurückgelassen oder als Waisen. Der Film erzählt von ihrer gewaltvollen Lebensrealität: er konfrontiert uns mit Kriminalität und Drogenmissbrauch, zeigt Kinder, die morden oder Neugeborene, die vor Hunger sterben. In Maracaibo kämpfen zwei Frauen auf unterschiedliche Weise gegen das Elend an: Während das Kinderheim von Carolina eine Oase inmitten von Gewalt und Entbehrungen ist, macht sich die alleinerziehende Kiara auf den beschwerlichen Weg nach Kolumbien, auf der Suche nach einem besseren Leben.
Ein erschütternder Zustandsbericht über ein Land, das im Begriff ist, eine ganze Generation zu verlieren. DOK.fest München 2024.