Theoretisch musste das vergangene Filmjahr trotz Pandemie, verschobener Starts und häufig geschlossener Kinos keineswegs ohne prestigeträchtige Titel auskommen: Es gab Mank, den neuen Film von Stil-Ikone David Fincher; The Trial of the Chicago 7 vom Meister des pfeilschnellen Dialogs Aaron Sorkin; einen neuen Mindfuck von Charlie Kaufman, I’m Thinking of Ending Things; während Superstar George Clooney als Regisseur und Drehbuchautor The Midnight Sky vorlegte, einen teuren Science-Fiction-Film mit Öko-Botschaft. Vielleicht haben Sie dennoch keinen davon gesehen oder von einigen Titeln noch nicht einmal gehört. Denn trotz saftiger Zugewinne bei den Streamingdiensten kann man nach einem Jahr Pandemie schon einmal das Fazit ziehen, dass der Film das Kino für seinen Diskurs braucht.
Dass es sich bei den oben genannten Werken um Netflix-Filme handelt, ist wenig verwunderlich, denn der Streaming-Gigant hat sich schon früh als Gegenmacht zu Hollywood positioniert, bedeutende Kreative abgeworben und Award-Kampagnen für seine Filme gefahren. Neben potenziellen Titeln für die großen Preise gab es im letzten Jahr auf Netflix noch Unmengen weiterer größerer Filme, etwa den Hard-Boiled-Krimi Spenser Confidential, den Southern-Gothic-Thriller The Devil All the Time oder die Detektivkomödie Enola Holmes. Andere Anbieter zogen und ziehen nach: AppleTV+ streamt den maritimen Kriegsfilm Greyhound (2020), Sky das Superhelden-Epos Wonder Woman 1984 (2020), Amazon Prime das Drummer-Drama Sound of Metal (2019) und die Comedy-Sequels Borat Anschluss-Moviefilm (2020) und Der Prinz aus Zamunda 2 (2021). Michael Moore stellte die von ihm produzierte Klimaschutz-Doku Planet of the Humans (2019) im letzten Jahr für einige Monate kostenlos auf seinem YouTube-Kanal zur Verfügung. Dies sind nur einige Titel, darunter sowohl Filme, die von Anfang an als Streaming-Content gedacht waren, als auch Werke, die angesichts geschlossener Kinos entweder auf studioeigenen Plattformen ausgewertet oder an Streaming-Anbieter verkauft wurden. Viele der Genannten sind für Oscars nominiert oder haben bereits Preise, z.B. bei den Golden Globes, bekommen.
Wie einzelne Filme qualitativ sind oder ob sich die Auswertung als Stream, die in manchen Fällen einer Verzweiflungstat gleichkam, finanziell lohnt, soll im Folgenden nicht diskutiert werden. Auffällig ist jedoch die Tatsache, dass eines abgenommen hat: Der Diskurs zu einzelnen Filmen. Der frühe Krebstod Chadwick Bosemans ging im letzten Jahr durch die Medien, für seine Rolle in dem Blues-Drama Ma Rainey’s Black Bottom (2020) erhielt er posthum einen Golden Globe und eine Oscar-Nominierung, doch zu der Netflix-Produktion an sich war wenig in den Medien zu hören. Ein anderes Beispiel lässt sich auf Disney+ finden: Soul (2020) gilt zwar als bester Pixar-Film seit Jahren, bei seiner Auswertung als Familien-Event ab Weihnachten nach gestrichenem Kinostart ging er jedoch in der Presse weitestgehend unter. Im Direktvergleich wesentlich größer war die Resonanz zu Disneys umstrittener Mulan-Realverfilmung (2020). Das mag vielleicht daran liegen, dass kurz vor dem ersten Lockdown und dem abgeblasenem Kinostart des Films im letzten Jahr noch Pressevorführungen stattfanden, aber auch an den außerfilmischen Kontroversen: Hauptdarstellerin Liu Yifei stellte sich auf die Seite der Polizei und gegen die für Freiheit demonstrierenden Bürger Hongkongs, weit diskutiert wurde auch die Tatsache, dass Disney+-Abonnenten von 4. September bis 2. November zusätzliche 30 Dollar bezahlen mussten, wenn sie den Film sehen wollten. Erst nach Ablauf dieses Fensters wurde „Mulan“ ohne Extrakosten ins Disney+-Programm aufgenommen. Daran hingen natürlich auch Diskussionen, ob Premium-VoD in diesen Zeiten ein Ersatz für den Kino-Run sündhaft teurer Blockbuster sein kann. Einen Königsweg scheint es in dieser Frage nicht zu geben. Warner fährt in diesem Jahr die kontrovers diskutierte Strategie, dass alle Filme parallel zum Kinostart (sofern die Lichtspielhäuser offen haben) auch für 30 Tage auf dem hauseigenen Streamingdienst HBO Max zur Verfügung stehen. Nach diesem Fenster verschwinden sie von der Plattform, nicht aber aus den Kinos. Da es aufgrund bestehender Verträge mit anderen Partnern kein HBO Max in Deutschland gibt, sind einige Filme hierzulande derzeit gar nicht zu sehen, andere wie der erwähnte Wonder Woman 1984 werden über Sky ausgewertet.
Ein Blick auf die vergangenen Jahre zeigt bereits, dass eine mediale Diskussion oft über den Film an sich und seine Qualitäten hinausgeht. Warcraft: The Beginning (2016) wurde weitestgehend verrissen und von den meisten Publikumsschichten nicht im Kino angeschaut, erzeugte jedoch in vielerlei Hinsicht ein Echo in Print- und Online-Presse. Es ging um eventuell gefälschte Besucherzahlen in China, wo der Film angeblich abräumte, um die Entwicklung des ehemaligen Indie-Darlings Duncan Jones auf dem Regiestuhl und die Frage, ob der Film für ein Nicht-Gamer-Publikum quasi unverständlich sei. Über einen ähnlichen Widerhall hätte sich Jones bei seinem folgenden, weitestgehend untergegangenen Netflix-Film Mute (2018) sicherlich gefreut.
Das bedeutet nicht, dass Streaming-Titel nicht ähnliche Diskurse erzeugen können. Gerade Netflix hat Erfahrung darin: Als Okja (2017) und The Meyerowitz Stories (New and Selected) (2017) von Bong Joon-ho und Noah Baumbach es in den Wettbewerb von Cannes schafften, entbrannte ein Sturm, ob Streaming-Content auf einem Kinofestival laufen darf. Ähnlich sah es aus, als Netflix sich die Auswertungsrechte an Alfonso Cuaróns Roma (2018) sicherte, sich als das Unternehmen präsentierte, dass Martin Scorsese – im Gegensatz zu den Hollywoodstudios – die Finanzierung von The Irishman (2019) im gewünschten Rahmen erlaubte, oder mit Bright (2017) den ersten Streaming-Film im Blockbuster-Format lancierte. Doch es fällt dem Branchenprimus zunehmend schwerer solche Events zu generieren. Immerhin ein paar Diskussionen gab es, als Netflix den von seinen Fans geliebten und seinen Kritikern gehassten Actionpapst Michael Bay den 200 Millionen Dollar teuren 6 Underground (2019) inszenieren ließ. Ein wenig Widerhall fanden auch die Ankündigungen, dass Bird Box (2018) zum meistgesehenen Film des Streamingdienstes, der so gut wie keine Abrufzahlen herausgibt, avancierte bzw. dass zwei Jahre später Tyler Rake: Extraction (2020) diesen Rekord brach. Gleichzeitig erklärte Netflix in diesem Zusammenhang auch, dass ein Abruf in die Statistik einfließt, so lange der Zuschauer länger als zwei Minuten dranbleibt. Beim Konkurrenten Amazon war ebenfalls eine Vermischung von Intra- und Extradiegetischem der größte Resonanz-Faktor, nämlich die Tatsache, dass Borat Anschluss-Moviefilm explizit auf den amerikanischen Wahlkampf abzielte und eine viel diskutierte Szene enthielt, in der Donald Trumps persönlicher Anwalt Rudy Giuliani von Borats Filmtochter interviewt wird und sich dabei – je nach parteipolitischer Sympathie und Sichtweise – entweder mit sexueller Absicht in die Hose greift oder einfach nur das Aufnahme-Equipment neu justiert.
Auch im Kino gibt es genug Filme, die unter dem Radar fliegen oder keine großen Diskurse erzeugen, insgesamt stehen Kino-Releases in dieser Beziehung aber besser da. Obwohl Filmzeitschriften wie die „epd film“ in den Corona-Modus umgeschaltet haben und nun verstärkt Streamingprodukte besprechen, obwohl das Feuilleton diese Werke ebenfalls nicht ignoriert, so generieren sie doch weitaus weniger Resonanz als Kinofilme, egal ob man nun die Presse, die Online-Berichterstattung oder auch Diskussionsforen als Grundlage nimmt. Das mag daran liegen, dass das Kino einerseits demokratischer, andrerseits dringlicher im Bereich der Filmrezeption ist. Nicht jeder Zuschauer/jede Zuschauerin hat auch jeden Streamingdienst abonniert, weshalb Mank für Prime-Kunden ähnlich unerreichbar ist wie das Borat-Sequel für das Netflix-Publikum. Die meisten Kinofilme kann jede/r sehen, der/die bereit ist das Eintrittsgeld zu bezahlen. Gleichzeitig muss man sich entscheiden, dass man ein Kino-Release rechtzeitig anschaut. Je nach Erfolg verschwindet ein Film früher oder schneller aus den Kinos. Will man ihn auf möglichst großer Leinwand sehen, muss man sich für einen Besuch in den ersten Wochen entscheiden. Es ist eine Kinomode, dass viele große Filme seit einigen Jahren das meiste Geld in den ersten zwei Wochen einspielen und es immer weniger Langläufer gibt, doch scheint es bei Streaming-Content augenscheinlich nicht anders zu sein: Erfolgsmeldungen werden in den ersten Wochen nach Release oder gar nicht veröffentlicht, auch Diskussionen zu einzelnen Titeln schlafen meist innerhalb von 14 Tagen ein. Dabei sind sie die Filme theoretisch dauerhaft verfügbar, doch der Autor dieser Zeilen kann aus eigener Erfahrung sagen, dass er die oben genannten Netflix-Titel meist entweder direkt zum Start gesehen hat oder sie heute noch in seiner Watchlist versauern, obwohl sie ihn eigentlich interessieren. Aber es besteht eben kein Druck, sie direkt anzusehen, man sie sich für ein diffuses „Später“ aufheben.
Ein ganz anderer Druck scheint zudem in Sachen Positionierung zu bestehen. Einige Kinofranchises, seien es nun die Superheldenfilme von DC und Marvel, die Fast and the Furious-Reihe oder die Star Wars-Saga, verfügen über ebenso glühende Fans wie lautstarke Kritiker, aber es scheint unmöglich, sich nicht dazu positionieren zu können. Selbst die von manchen Kommentatoren mit Nachdruck vorgetragene Bekundung, dass man alle Filme einer Reihe einfach ignoriere („Dieses ganze Comic-Gedöns interessiert mich einfach nicht“), ist letztlich nur Kritik einer anderen Art. Ein tatsächliches Ignorieren, im Sinne von Nichtkenntnis oder Schweigen zu diesen Marken, scheint selten möglich, wie es bei vielen Streaming-Titeln vorkommt. Im Falle von Independent-Streamern wie Mubi oder Nicolas Winding Refns byNWR dürften nicht nur einzelne Titel, sondern die kompletten Dienste der Masse unbekannt sein.
Es gibt einen Titel, der all die bisher getroffenen Thesen mit Blick auf das vergangene Filmjahr so gut verkörpert wie kein anderer: Tenet (2020). Der erste große Kinostart der Corona-Zeit, der es vor allem auf den expliziten Wunsch seines Regisseurs Christopher Nolan auf die großen Leinwände schaffte, wofür dieser sich sogar mit dem produzierenden Studio Warner anlegte. Da man es dem Zeitreisethriller (in der Rückschau vielleicht etwas übertrieben) auf die Schultern legte, mit seinem Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft des Kinos zu entscheiden, war ihm ein großes Echo gewiss. Doch auch andere Aspekte – vom Erklärfaible des Regisseurs über mögliche Interpretationen bis hin zum Streit über eventuelle Logiklücken – wurden von Fans und Kritikern breit diskutiert. Tenet schlug sich achtbar angesichts der Lage, war am Ende zwar ein Verlustgeschäft (363 Millionen Dollar Einspiel bei einem Budget von 200 Millionen), aber ein Event. Bei Godzilla vs. Kong (2021), ebenfalls eine Warner-Produktion, erscheint es andersrum zu sein: Das Monsterspektakel spielte trotz vieler geschlossener oder nicht vollständig ausgelasteter Kinos und trotz parallelem Start auf HBO Max allein in seinen ersten drei Wochen rund 343 Millionen Dollar ein (Budget: 155 bis 200 Millionen Dollar). Damit dürfte er seinen direkten Vorgänger, Godzilla: King of the Monsters (386,6 Millionen Dollar Einspiel bei einem Budget von 170 bis 200 Millionen), höchstwahrscheinlich einholen, der 2019 unter Normalbedingungen gestartet war und die kommerziellen Erwartungen enttäuschte. Doch der Kampf der Giganten, dessen deutscher Kinostart auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, erzeugte ein kleineres mediales Echo als Tenet, der als exklusiver Kinotitel ins Rennen ging.
Dass das Kino als Ort für den Film von großer Bedeutung ist, zeigen letztlich auch die Online-Versionen von Filmfestivals. In den Medien wird pflichtschuldig über die digitale Berlinale und Co. berichtet, doch die Texte sind weniger lebhaft, der Wettbewerb wirkt weniger greifbar als in anderen Jahren. Anekdoten über minutenlangen Beifall am Ende einer Verführung oder Berichte über Zuschauer, die buhen oder gleich reihenweise den Saal verlassen, geben eben ein unmittelbareres Bild davon, wie ein Film ankommt, wie er sich im Wettbewerb schlägt und welche Preischancen er am Ende haben wird. Oft werden so auch regelrechte Feedbackloops produziert, man nehme den letztjährigen Oscar-Sieger Parasite (2019) als Beispiel, der in den deutschen Medien zu gleich drei Gelegenheiten massiv vorkam. Den Anfang machte sein Cannes-Einsatz mit begeistern Kritiken und dem Gewinn der goldenen Palme im Mai 2019. Danach war Bong Joon-hos Klassenkampfsatire zum deutschen Kinostart im Oktober desselben Jahres und im Umfeld der Oscar-Verleihung im Februar 2020, bei der Parasite als erster Film sowohl in der Kategorie als bester ausländischer Film als auch in der Kategorie als bester Film ausgezeichnet wurde, in aller Munde. Gern auch mit Verweis auf seinen Sieg in Cannes, bei dem er als erster Film seit Blau ist eine warme Farbe (2013) mit einstimmiger Jury-Wertung gewonnen hatte.
Der Medientheoretiker Walter Benjamin befürchtete in seiner 1935er Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dass Kunstwerke ihre Aura verlieren würden, wenn es nicht mehr ein einzelnes Original (wie bei Gemälden oder Statuen) gebe, sondern seriell gefertigte Produkte wie Kunstdrucke oder Schallplattenaufnahmen an der Tagesordnung seien. Nun gibt es auch beim Film kein Original im Benjaminschen Sinne mehr, was ihm seinen Kunstcharakter nicht abspricht. Aber – sollten all die in diesem Text getätigten Beobachtungen nicht bloß anekdotisch sein – im übertragenen Sinne ist das Kino als Abspielort wichtig für die Aura des Films. Eine Produktion mag auch in anderen Verwertungsformen kommerziell erfolgreich oder qualitativ gut sein, erst im Kino scheint sie ihre volle Wirkung als Kulturobjekt im Diskurs entfalten zu können.
Theoretisch musste das vergangene Filmjahr trotz Pandemie, verschobener Starts und häufig geschlossener Kinos keineswegs ohne prestigeträchtige Titel auskommen: Es gab Mank, den neuen Film von Stil-Ikone David Fincher; The Trial of the Chicago 7 vom Meister des pfeilschnellen Dialogs Aaron Sorkin; einen neuen Mindfuck von Charlie Kaufman, I’m Thinking of Ending Things; während Superstar George Clooney als Regisseur und Drehbuchautor The Midnight Sky vorlegte, einen teuren Science-Fiction-Film mit Öko-Botschaft. Vielleicht haben Sie dennoch keinen davon gesehen oder von einigen Titeln noch nicht einmal gehört. Denn trotz saftiger Zugewinne bei den Streamingdiensten kann man nach einem Jahr Pandemie schon einmal das Fazit ziehen, dass der Film das Kino für seinen Diskurs braucht.
Dass es sich bei den oben genannten Werken um Netflix-Filme handelt, ist wenig verwunderlich, denn der Streaming-Gigant hat sich schon früh als Gegenmacht zu Hollywood positioniert, bedeutende Kreative abgeworben und Award-Kampagnen für seine Filme gefahren. Neben potenziellen Titeln für die großen Preise gab es im letzten Jahr auf Netflix noch Unmengen weiterer größerer Filme, etwa den Hard-Boiled-Krimi Spenser Confidential, den Southern-Gothic-Thriller The Devil All the Time oder die Detektivkomödie Enola Holmes. Andere Anbieter zogen und ziehen nach: AppleTV+ streamt den maritimen Kriegsfilm Greyhound (2020), Sky das Superhelden-Epos Wonder Woman 1984 (2020), Amazon Prime das Drummer-Drama Sound of Metal (2019) und die Comedy-Sequels Borat Anschluss-Moviefilm (2020) und Der Prinz aus Zamunda 2 (2021). Michael Moore stellte die von ihm produzierte Klimaschutz-Doku Planet of the Humans (2019) im letzten Jahr für einige Monate kostenlos auf seinem YouTube-Kanal zur Verfügung. Dies sind nur einige Titel, darunter sowohl Filme, die von Anfang an als Streaming-Content gedacht waren, als auch Werke, die angesichts geschlossener Kinos entweder auf studioeigenen Plattformen ausgewertet oder an Streaming-Anbieter verkauft wurden. Viele der Genannten sind für Oscars nominiert oder haben bereits Preise, z.B. bei den Golden Globes, bekommen.
Wie einzelne Filme qualitativ sind oder ob sich die Auswertung als Stream, die in manchen Fällen einer Verzweiflungstat gleichkam, finanziell lohnt, soll im Folgenden nicht diskutiert werden. Auffällig ist jedoch die Tatsache, dass eines abgenommen hat: Der Diskurs zu einzelnen Filmen. Der frühe Krebstod Chadwick Bosemans ging im letzten Jahr durch die Medien, für seine Rolle in dem Blues-Drama Ma Rainey’s Black Bottom (2020) erhielt er posthum einen Golden Globe und eine Oscar-Nominierung, doch zu der Netflix-Produktion an sich war wenig in den Medien zu hören. Ein anderes Beispiel lässt sich auf Disney+ finden: Soul (2020) gilt zwar als bester Pixar-Film seit Jahren, bei seiner Auswertung als Familien-Event ab Weihnachten nach gestrichenem Kinostart ging er jedoch in der Presse weitestgehend unter. Im Direktvergleich wesentlich größer war die Resonanz zu Disneys umstrittener Mulan-Realverfilmung (2020). Das mag vielleicht daran liegen, dass kurz vor dem ersten Lockdown und dem abgeblasenem Kinostart des Films im letzten Jahr noch Pressevorführungen stattfanden, aber auch an den außerfilmischen Kontroversen: Hauptdarstellerin Liu Yifei stellte sich auf die Seite der Polizei und gegen die für Freiheit demonstrierenden Bürger Hongkongs, weit diskutiert wurde auch die Tatsache, dass Disney+-Abonnenten von 4. September bis 2. November zusätzliche 30 Dollar bezahlen mussten, wenn sie den Film sehen wollten. Erst nach Ablauf dieses Fensters wurde „Mulan“ ohne Extrakosten ins Disney+-Programm aufgenommen. Daran hingen natürlich auch Diskussionen, ob Premium-VoD in diesen Zeiten ein Ersatz für den Kino-Run sündhaft teurer Blockbuster sein kann. Einen Königsweg scheint es in dieser Frage nicht zu geben. Warner fährt in diesem Jahr die kontrovers diskutierte Strategie, dass alle Filme parallel zum Kinostart (sofern die Lichtspielhäuser offen haben) auch für 30 Tage auf dem hauseigenen Streamingdienst HBO Max zur Verfügung stehen. Nach diesem Fenster verschwinden sie von der Plattform, nicht aber aus den Kinos. Da es aufgrund bestehender Verträge mit anderen Partnern kein HBO Max in Deutschland gibt, sind einige Filme hierzulande derzeit gar nicht zu sehen, andere wie der erwähnte Wonder Woman 1984 werden über Sky ausgewertet.
Ein Blick auf die vergangenen Jahre zeigt bereits, dass eine mediale Diskussion oft über den Film an sich und seine Qualitäten hinausgeht. Warcraft: The Beginning (2016) wurde weitestgehend verrissen und von den meisten Publikumsschichten nicht im Kino angeschaut, erzeugte jedoch in vielerlei Hinsicht ein Echo in Print- und Online-Presse. Es ging um eventuell gefälschte Besucherzahlen in China, wo der Film angeblich abräumte, um die Entwicklung des ehemaligen Indie-Darlings Duncan Jones auf dem Regiestuhl und die Frage, ob der Film für ein Nicht-Gamer-Publikum quasi unverständlich sei. Über einen ähnlichen Widerhall hätte sich Jones bei seinem folgenden, weitestgehend untergegangenen Netflix-Film Mute (2018) sicherlich gefreut.
Das bedeutet nicht, dass Streaming-Titel nicht ähnliche Diskurse erzeugen können. Gerade Netflix hat Erfahrung darin: Als Okja (2017) und The Meyerowitz Stories (New and Selected) (2017) von Bong Joon-ho und Noah Baumbach es in den Wettbewerb von Cannes schafften, entbrannte ein Sturm, ob Streaming-Content auf einem Kinofestival laufen darf. Ähnlich sah es aus, als Netflix sich die Auswertungsrechte an Alfonso Cuaróns Roma (2018) sicherte, sich als das Unternehmen präsentierte, dass Martin Scorsese – im Gegensatz zu den Hollywoodstudios – die Finanzierung von The Irishman (2019) im gewünschten Rahmen erlaubte, oder mit Bright (2017) den ersten Streaming-Film im Blockbuster-Format lancierte. Doch es fällt dem Branchenprimus zunehmend schwerer solche Events zu generieren. Immerhin ein paar Diskussionen gab es, als Netflix den von seinen Fans geliebten und seinen Kritikern gehassten Actionpapst Michael Bay den 200 Millionen Dollar teuren 6 Underground (2019) inszenieren ließ. Ein wenig Widerhall fanden auch die Ankündigungen, dass Bird Box (2018) zum meistgesehenen Film des Streamingdienstes, der so gut wie keine Abrufzahlen herausgibt, avancierte bzw. dass zwei Jahre später Tyler Rake: Extraction (2020) diesen Rekord brach. Gleichzeitig erklärte Netflix in diesem Zusammenhang auch, dass ein Abruf in die Statistik einfließt, so lange der Zuschauer länger als zwei Minuten dranbleibt. Beim Konkurrenten Amazon war ebenfalls eine Vermischung von Intra- und Extradiegetischem der größte Resonanz-Faktor, nämlich die Tatsache, dass Borat Anschluss-Moviefilm explizit auf den amerikanischen Wahlkampf abzielte und eine viel diskutierte Szene enthielt, in der Donald Trumps persönlicher Anwalt Rudy Giuliani von Borats Filmtochter interviewt wird und sich dabei – je nach parteipolitischer Sympathie und Sichtweise – entweder mit sexueller Absicht in die Hose greift oder einfach nur das Aufnahme-Equipment neu justiert.
Auch im Kino gibt es genug Filme, die unter dem Radar fliegen oder keine großen Diskurse erzeugen, insgesamt stehen Kino-Releases in dieser Beziehung aber besser da. Obwohl Filmzeitschriften wie die „epd film“ in den Corona-Modus umgeschaltet haben und nun verstärkt Streamingprodukte besprechen, obwohl das Feuilleton diese Werke ebenfalls nicht ignoriert, so generieren sie doch weitaus weniger Resonanz als Kinofilme, egal ob man nun die Presse, die Online-Berichterstattung oder auch Diskussionsforen als Grundlage nimmt. Das mag daran liegen, dass das Kino einerseits demokratischer, andrerseits dringlicher im Bereich der Filmrezeption ist. Nicht jeder Zuschauer/jede Zuschauerin hat auch jeden Streamingdienst abonniert, weshalb Mank für Prime-Kunden ähnlich unerreichbar ist wie das Borat-Sequel für das Netflix-Publikum. Die meisten Kinofilme kann jede/r sehen, der/die bereit ist das Eintrittsgeld zu bezahlen. Gleichzeitig muss man sich entscheiden, dass man ein Kino-Release rechtzeitig anschaut. Je nach Erfolg verschwindet ein Film früher oder schneller aus den Kinos. Will man ihn auf möglichst großer Leinwand sehen, muss man sich für einen Besuch in den ersten Wochen entscheiden. Es ist eine Kinomode, dass viele große Filme seit einigen Jahren das meiste Geld in den ersten zwei Wochen einspielen und es immer weniger Langläufer gibt, doch scheint es bei Streaming-Content augenscheinlich nicht anders zu sein: Erfolgsmeldungen werden in den ersten Wochen nach Release oder gar nicht veröffentlicht, auch Diskussionen zu einzelnen Titeln schlafen meist innerhalb von 14 Tagen ein. Dabei sind sie die Filme theoretisch dauerhaft verfügbar, doch der Autor dieser Zeilen kann aus eigener Erfahrung sagen, dass er die oben genannten Netflix-Titel meist entweder direkt zum Start gesehen hat oder sie heute noch in seiner Watchlist versauern, obwohl sie ihn eigentlich interessieren. Aber es besteht eben kein Druck, sie direkt anzusehen, man sie sich für ein diffuses „Später“ aufheben.
Ein ganz anderer Druck scheint zudem in Sachen Positionierung zu bestehen. Einige Kinofranchises, seien es nun die Superheldenfilme von DC und Marvel, die Fast and the Furious-Reihe oder die Star Wars-Saga, verfügen über ebenso glühende Fans wie lautstarke Kritiker, aber es scheint unmöglich, sich nicht dazu positionieren zu können. Selbst die von manchen Kommentatoren mit Nachdruck vorgetragene Bekundung, dass man alle Filme einer Reihe einfach ignoriere („Dieses ganze Comic-Gedöns interessiert mich einfach nicht“), ist letztlich nur Kritik einer anderen Art. Ein tatsächliches Ignorieren, im Sinne von Nichtkenntnis oder Schweigen zu diesen Marken, scheint selten möglich, wie es bei vielen Streaming-Titeln vorkommt. Im Falle von Independent-Streamern wie Mubi oder Nicolas Winding Refns byNWR dürften nicht nur einzelne Titel, sondern die kompletten Dienste der Masse unbekannt sein.
Es gibt einen Titel, der all die bisher getroffenen Thesen mit Blick auf das vergangene Filmjahr so gut verkörpert wie kein anderer: Tenet (2020). Der erste große Kinostart der Corona-Zeit, der es vor allem auf den expliziten Wunsch seines Regisseurs Christopher Nolan auf die großen Leinwände schaffte, wofür dieser sich sogar mit dem produzierenden Studio Warner anlegte. Da man es dem Zeitreisethriller (in der Rückschau vielleicht etwas übertrieben) auf die Schultern legte, mit seinem Erfolg oder Misserfolg über die Zukunft des Kinos zu entscheiden, war ihm ein großes Echo gewiss. Doch auch andere Aspekte – vom Erklärfaible des Regisseurs über mögliche Interpretationen bis hin zum Streit über eventuelle Logiklücken – wurden von Fans und Kritikern breit diskutiert. Tenet schlug sich achtbar angesichts der Lage, war am Ende zwar ein Verlustgeschäft (363 Millionen Dollar Einspiel bei einem Budget von 200 Millionen), aber ein Event. Bei Godzilla vs. Kong (2021), ebenfalls eine Warner-Produktion, erscheint es andersrum zu sein: Das Monsterspektakel spielte trotz vieler geschlossener oder nicht vollständig ausgelasteter Kinos und trotz parallelem Start auf HBO Max allein in seinen ersten drei Wochen rund 343 Millionen Dollar ein (Budget: 155 bis 200 Millionen Dollar). Damit dürfte er seinen direkten Vorgänger, Godzilla: King of the Monsters (386,6 Millionen Dollar Einspiel bei einem Budget von 170 bis 200 Millionen), höchstwahrscheinlich einholen, der 2019 unter Normalbedingungen gestartet war und die kommerziellen Erwartungen enttäuschte. Doch der Kampf der Giganten, dessen deutscher Kinostart auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, erzeugte ein kleineres mediales Echo als Tenet, der als exklusiver Kinotitel ins Rennen ging.
Dass das Kino als Ort für den Film von großer Bedeutung ist, zeigen letztlich auch die Online-Versionen von Filmfestivals. In den Medien wird pflichtschuldig über die digitale Berlinale und Co. berichtet, doch die Texte sind weniger lebhaft, der Wettbewerb wirkt weniger greifbar als in anderen Jahren. Anekdoten über minutenlangen Beifall am Ende einer Verführung oder Berichte über Zuschauer, die buhen oder gleich reihenweise den Saal verlassen, geben eben ein unmittelbareres Bild davon, wie ein Film ankommt, wie er sich im Wettbewerb schlägt und welche Preischancen er am Ende haben wird. Oft werden so auch regelrechte Feedbackloops produziert, man nehme den letztjährigen Oscar-Sieger Parasite (2019) als Beispiel, der in den deutschen Medien zu gleich drei Gelegenheiten massiv vorkam. Den Anfang machte sein Cannes-Einsatz mit begeistern Kritiken und dem Gewinn der goldenen Palme im Mai 2019. Danach war Bong Joon-hos Klassenkampfsatire zum deutschen Kinostart im Oktober desselben Jahres und im Umfeld der Oscar-Verleihung im Februar 2020, bei der Parasite als erster Film sowohl in der Kategorie als bester ausländischer Film als auch in der Kategorie als bester Film ausgezeichnet wurde, in aller Munde. Gern auch mit Verweis auf seinen Sieg in Cannes, bei dem er als erster Film seit Blau ist eine warme Farbe (2013) mit einstimmiger Jury-Wertung gewonnen hatte.
Der Medientheoretiker Walter Benjamin befürchtete in seiner 1935er Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dass Kunstwerke ihre Aura verlieren würden, wenn es nicht mehr ein einzelnes Original (wie bei Gemälden oder Statuen) gebe, sondern seriell gefertigte Produkte wie Kunstdrucke oder Schallplattenaufnahmen an der Tagesordnung seien. Nun gibt es auch beim Film kein Original im Benjaminschen Sinne mehr, was ihm seinen Kunstcharakter nicht abspricht. Aber – sollten all die in diesem Text getätigten Beobachtungen nicht bloß anekdotisch sein – im übertragenen Sinne ist das Kino als Abspielort wichtig für die Aura des Films. Eine Produktion mag auch in anderen Verwertungsformen kommerziell erfolgreich oder qualitativ gut sein, erst im Kino scheint sie ihre volle Wirkung als Kulturobjekt im Diskurs entfalten zu können.
Nils Bothmann